Ein Raum gesammelter Gegenwärtigkeit

Zu Leo Zogmayers und Peter Sichaus Entwurf einer Neugestaltung der St. Hedwigs Kathedrale

Karl Baier

 

 

Got ist ein got der gegenwerticheit. 1

Meister Eckhart

 

Der vorliegende Entwurf lässt sich als Weiterführung eines Ansatzes von Romano Guardini und Rudolf Schwarz verstehen: der Konzeption des liturgischen Raums als Zeit-Raum der Sammlung.2 Was heute gerne unter Titeln wie Meditation oder Achtsamkeitspraxis thematisiert und geübt wird, ist dieser Auffassung zufolge für die Liturgie grundlegend. Sich sammeln bedeutet für Guardini anwesend zu werden, wach und ansprechbar für das, was das Leben bringt. Das geht nur, wenn man innerlich ruhig und still wird und sich zentriert, also mit sich eins wird. In der Sammlung erschließt sich die Welt in ihrer offenen Weite. Der Weite-Raum der Sammlung ist zugleich ein spiritueller Raum. Er öffnet sich der Gegenwart Gottes (der war, ist und sein wird, dessen Präsenz also alle Zeitmodi, die geschichtlichen Heilsereignisse und den Ausblick auf ihn als Eschaton, in sich birgt) und wird damit zum primären liturgischen Zeit-Raum.

Die kirchenbauliche Raumgestaltung steht bei Guardini und Schwarz im Dienst der Sammlung. Ihre oberste Aufgabe ist es, die Zusammenkunft von Gott und Mensch in der gemeinschaftlichen Sammlung nicht zu verbauen, sondern zu erleichtern. Diese Funktion soll das moderne Kirchengebäude, so Schwarz, schon von außen signalisieren, indem es einen baulichen Gegenpol zur Hektik der Arbeits- und Einkaufswelt darstellt.3 Erst recht steht der Innenraum der Kirche im Dienst der Sammlung. Zu den verschiedenen Phasen der Eucharistiefeier schreibt er: „Was man zu alldem braucht ist sehr schlicht: einen gut geformten andächtigen Raum, welcher sammeln soll und gleichsam bereitstehen als gutes Gefäß für die Handlung.“4

Die von den Schriften Meister Eckharts inspirierte weitgehende Bildlosigkeit und Leere der Schwarz’schen Kirchenräume entsprechen der Erfahrung von Leere und Stille im Zeit-Raum der Sammlung und der ungreifbaren Präsenz Gottes. Guardini meint dazu:

Was die Bildlosigkeit des Heiligen Raumes betrifft, so ist dessen Leere ja doch selbst ein ‚Bild’. Ohne Paradox gesagt: die richtig geformte Leere von Raum und Fläche ist keine bloße Negation der Bildlichkeit, sondern deren Gegenpol. […] Sobald der Mensch für sie offen wird, empfindet er in ihr eine geheimnisvolle Anwesenheit. Sie drückt vom Heiligen das aus, was über Gestalt und Begriff geht.5

Als Meister der „weißen Moderne“ handhabt Schwarz das Gestaltungsprinzip der Reduktion zur Hervorbringung dieser Leere auf souveräne Weise. Die Vereinfachung von Form und Material, der Verzicht auf alles Ornamentale, die Reduzierung bildhafter Elemente auf ein Minimum und die konsequente Gliederung seiner Kirchenräume, machen es leicht, sich in ihnen zu sammeln. Hinzu kommt, dass das über pragmatische Notwendigkeit hinausgehende Volumen des Kirchenraums stärker zur Geltung kommt, als bei semiotisch überfrachteten Kirchen, in denen von allen Seiten Symbole und Figuren auf die Besucherinnen und Besucher einreden. So entsteht ein Raum, der dazu einlädt, in die Erfahrung offener Weite einzutreten.6

Der preisgekrönte Wettbewerbsentwurf, den Leo Zogmayer in Kooperation mit dem Architekten Peter Sichau für die Neugestaltung der St. Hedwigskathedrale in Berlin ausarbeitete, ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass das Projekt des liturgischen Raums als eines Raumes der Sammlung im Sinn von Guardini und Schwarz nicht ausgeschöpft, sondern unvermindert aktuell ist.

Für St. Hedwig eignet sich dieses Raumkonzept besonders, da schon die ursprüngliche Raumgestalt dieser Kirche ihre Gestaltung als Ort der Sammlung nahelegt. Es lässt sich schwerlich ein konsequenterer Rundbau als dieses zylindrische Gebäude vorstellen, das von einer großen Kuppel mit Oberlichtauge überdacht wird. Anders als andere sakrale Zentralbauten hat dieser keine angefügten Nischen, Kapellen, zusätzliche Schiffe oder ähnliches. „Vielmehr haben wir es hier mit der auf ihre Weise großartigen Simplizität und Einfältigkeit eines Mauerrunds zu tun, das ohne Umstände den kreisförmigen Raum schlicht und streng eingrenzt.“7

Da Leo Zogmayer für seine Communio-Räume die Versammlungsfigur des Kreises bevorzugt, kommt ihm diese Raumform sehr entgegen. Die kreisförmige Runde ist für ihn die schlüssigste Raumform für die liturgische Feier. Wie schon Rudolf Schwarz wusste, für den die kreisförmige Versammlung um den Altar das Alpha und Omega seiner idealtypischen Entwürfe von Kirchenräumen darstellt, vermittelt sie stärker als andere Figuren Verbundenheit, Geborgenheit und zugleich Offenheit aller zu allen und zur abgründigen Gegenwart Gottes.8 Nicht umsonst ist das Sitzen im Kreis die heute wohl beliebteste Form von Gruppenmeditation.  Das gemeinsame Sichsammeln wird von dieser räumlichen Ordnung besonders unterstützt. Im Kreis übertragen sich die Gegenwärtigkeit und innere Stille aller besonders fließend auf alle, so dass ein intensiver Raum der Sammlung entstehen kann. Dazu kommt eine weiterer Vorteil: „Die oft angesprochene Problematik der Konfrontation der Gottesdienstteilnehmer mit dem direkten Gegenüber ist in der Kreisform nicht gegeben. Anders als beim Gegenüber starrer Reihen blickt man hier ins Rund der versammelten Gemeinde“9. Der Kreis ist keine selbstgenügsame Gemeinschaft, sondern transzendiert sich nach innen und nach außen. Einerseits sind die in ihm Versammelten auf eine gemeinsame Mitte gerichtet und andererseits offen zur Umwelt, innerhalb derer sie ihren Kreis bilden. Als temporäre Gestalt kommt der Kreis ja von dort zusammen und geht gestärkt wieder dorthin auseinander. Die Blicke der Versammelten gehen immer auch über den Kreis hinaus, in die Richtung der umliegenden Welt, in die sie nach der Feier die in der gemeinsamen Sammlung erfahrene Mitte hinaustragen.

In der heutigen Kathedrale ist jedoch der Kreis als Versammlungsform nicht praktizierbar. Die im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte Kathedrale wurde von 1952–1963 wieder aufgebaut und im Innenraum nach Entwürfen des Architekten Hans Schwippert neu gestaltet. Schwippert schätzte den Zentralbau St. Hedwigs. Er wollte seine würdevolle Strenge und den „großartigen Geist des Raumes“ bewahren.10 Der Raum sollte sich selber in der Einfachheit aussagen können, die ihm gemäß ist.11 Doch gelang ihm dies nur in Bezug auf den durch den Umbau unbeeinträchtigen Umschwung des Mauerrunds, nicht bei der Gestaltung der Raummitte.

Wohin der Altar kommen sollte, war ihm klar. „Wie immer in zentralen Räumen dieser Art, tendiert im Grunde ein Altar zur Raummitte. Hier wäre sein eigentlicher, wenn gleich nur theoretischer Ort.“12 Er zieht die beste Platzierung des Altars im konkreten Raum nur theoretisch in Betracht, weil er fürchtet, dass dadurch eine überbetonte Mitte entstünde, die den restlichen Raum zum bloßen Umraum degradieren würde. Stattdessen schuf er eine in den Raum gerückte, aber dezentrale „Altarinsel“, deren insularer Charakter besonders betont wurde, um diesem Bereich genügend Selbstständigkeit gegenüber der wirklichen Mitte des Raums zu geben.

Schwippert verstand außerdem die strenge Form des Raums als Produkt des Rationalismus der Aufklärung. Fixiert auf das Erscheinungsbild üblicher Kathedralen und auf sein Ideal einer Verbindung von Ratio und Emotion, glaubte er die letztlich doch rationalistisch „verkümmerte Einfalt“ und „Einschichtigkeit“ des Raums durch viele sekundäre liturgische Bereiche menschlicher machen zu müssen. Sie sollten vom Obergeschoss aus sichtbar und direkt mit ihm verbunden sein. Da er schließlich auf geplante Anbauten verzichtete, um die vollkommene Rundheit des Gebäudes zu bewahren, öffnete er den Boden zur Krypta und baute sie zu einer Unterkirche aus. Die Anbauten wurden ins Untergeschoss verlegt, dessen bauliche Struktur sich dafür anbot.

Diese Interventionen haben dem Raum generell und besonders seinem liturgischen Potential nicht gut getan. Er wirkt zerfahren, was den Vollzug des Sichsammelns in ihm erschwert. Der prosaische Treppenabgang und die klaffende Öffnung passen nicht zum wohlproportionierten oberen Kuppelraum. Die Gemeinde wird durch sie in zwei Teile geteilt und der Priester muss von der isolierten Altarinsel aus gegen die Öffnung zelebrieren. Durch die Öffnung findet keineswegs, wie manchmal zu lesen ist, eine Verstärkung der Vertikalen statt, allenfalls ihre Verlängerung nach unten. Letztere führt aber dazu, dass die Vertikale durch die Öffnung gleichsam nach unten abgesaugt wird. Außerdem wirkt die Verklammerung von Ober- und Unterkirche durch Ausführung beider Altäre aus einem Aufbau sehr konstruiert.

Zogmayer und Sichau befreien den Raum von diesen Misslichkeiten, indem sie die Bodenöffnung ganz schließen und den Altar erstmals in die tatsächliche Mitte des Zentralraums rücken. Dieser konsequente und – unter den gegebenen Umständen – mutige Schritt trug wesentlich dazu bei, dass sie mit ihrem Entwurf schließlich den Siegerpreis erhielten.

Der Altar soll aus hellem Kalkstein bestehen und hat die Gestalt einer nach oben offenen Halbkugel. Die Kugelform fügt sich sehr gut in die Rundheit des Gesamtraums und spiegelt zugleich die Runde der Versammelten wider, deren verbindende Mitte der Altar darstellt. Er wirkt massiv und leicht zugleich und repräsentiert die zum Himmel geöffnete Erde. Ihm antwortet die Kuppel und das Kuppelauge, unter dem er steht: der zur Erde offene Himmel. Der raumtheologische Sinn der Vertikalen kommt damit voll zur Geltung. Die communio von Gott und Schöpfung, im Schwellenbereich des Altars vergegenwärtigt als Gedächtnis Jesu Christi, wird zum Ursprung der eucharistischen communio der versammelten Gemeinde.

An die Stelle der unschönen Öffnung und des plakativen Altaraufbaus tritt eine subtilere vertikale Verbindung des Ober- und Untergeschosses. Für die Mitte der Unterkirche ist ein großer Taufbrunnen geplant, der sich genau unter dem Altar und dem Kuppelauge befindet.

Soviel zur Vertikalen. Zwei „Achsen der Andacht“ eröffnen weitere Raumrichtungen. Die eine verläuft zwischen zwei Heiligenfiguren, Orten bildhafter Andacht; die andere führt von der Orgel als Zentrum klingender Verehrung über Altar und den Ambo als Ort des Wortes zur Sakramentskapelle, die als Raum der Stille und schweigenden Andacht konzipiert ist.

Der Entwurf von Zogmayer und Sichau zeigt, dass Schwipperts Sorge, der zentral platzierte Altar würde eine allzu dominante Mitte bilden, unbegründet ist. Die in große Segmente geteilte Bestuhlung und der erhabene Weite vermittelnde Rundbau samt Kuppel, bilden durchaus ein Gegengewicht zum Altar. Auch hat der Ambo als zweites liturgisches Zentrum einen liturgisch sinnvollen, gebührlich hervorgehobenen Platz gefunden. So bildet sich eine dem Vollzug der Sammlung entsprechende Balance aus Zentrierung und Weite. Umkreis und Mitte geben sich wechselseitig frei. Dazu trägt auch die durch die Bestuhlung verstärkte Präsenz des tragenden Bodens der Kathedrale bei.

Dank dieses Entwurfs kann im Zentrum Berlins ein Ort entstehen, der aufgrund seiner elementaren Semantik der Sammlung nicht nur Christen, sondern Menschen mit unterschiedlichstem Hintergrund anzusprechen vermag, so dass sie aus der Zerstreutheit in die wache, zentrierte Gegenwärtigkeit finden, die ein Gotteshaus erst zu einem Ort macht, der seines Namens würdig ist.

 

1 Meister Eckhart, Reden der Unterweisung, Rede 12, zit. nach Meister Eckhart. Werke II. Texte und Übersetzungen hg. von Niklaus Largier. Frankfurt/M. 1993, 372.

2 Die in diesem Beitrag nur skizzierten Interpretationen zu Guardini und Schwarz sowie zum Entwurf von Leo Zogmayer und Peter Sichau gehen (oftmals wörtlich) auf die ausführlicheren Analysen in Karl Baier, Feiern im Zeit-Raum der Sammlung. Ein Gestaltungsprinzip des liturgischen Raums in der ersten und zweiten Moderne, in: Liturgisches Jahrbuch 65 (2015) 45–77 zurück.

3 Vgl. Rudolf Schwarz, Liturgie und Kirchenbau [1936], in: rothenfelser burgbrief 02/04, 6–16, 7–8, 8.

4 A.a.O., 12.

5 Romano Guardini, Die Sinne und die religiöse Erkenntnis. Drei Versuche. 2. erw. Aufl., Würzburg 1958, 76.

6 Vgl. dazu Gunda Brüske, Der Stille RAUM geben. Romano Guardini und Rudolf Schwarz über die Stille, in: Erbe und Auftrag 81 (2005) 185–196, 192.

7 Hans Schwippert, Ausbau der St.-Hedwigs-Kathedrale zu Berlin 1956–1963. Aufgabe und Baugedanke (Oktober 1963), Nachdr.: Andreas Herzig / Burkard Sauermost (Hrsg.), … unterm Himmel über Berlin. Glauben in der Stadt, Berlin 2001, 222–245, 226.

8 Vgl. Rudolf Schwarz, Vom Bau der Kirche [1938], Salzburg-München 1998, 28-30.

9 Leo Zogmayer, Vom Pantheon zur Kathedrale des 21. Jahrhunderts, in: Herder Korrespondenz 5/2015, 49.

10 Hans Schwippert, Ausbau der St.-Hedwigs-Kathedrale zu Berlin 1956–1963. Aufgabe und Baugedanke (Oktober 1963), Nachdr.: Andreas Herzig / Burkard Sauermost (Hrsg.), … unterm Himmel über Berlin. Glauben in der Stadt, Berlin 2001, 222–245, 226, 230.

11 Vgl. a.a.O., 236.

12 A.a.O., 230.

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