Im Spirituellen taugt nur das Urbildliche

Zur Neugestaltung der St. Hedwigs-Kathedrale

Leo Zogmayer im Gespräch mit kunst und kirche-redakteurin Anna Minta

Der österreichische Künstler Leo Zogmayer gewann zusammen mit dem Fuldaer Architekturbüro Sichau & Walter Architekten GmbH den vom Erzbistum Berlin 2013/14 ausgeschriebenen Wettbewerb zur „Neugestaltung des Innenraumes und des baulichen Umfelds“ der St. Hedwigskathedrale in Berlin. Zogmayer versteht Kirche auch als soziale Plastik, die die Gemeinde zur Partizipation einlädt. Hier spricht er über seine ästhetischen Konzepte und Ideale für einen Kirchenraum im 21. Jahrhundert.

 

 

Anna Minta: Die zeitgenössische Neugestaltung der neogotischen Kirche Maria Geburt in Aschaffenburg war Ihre erste Arbeit in/an einem Sakralraum. Seitdem haben Sie sich immer wieder mit der Umgestaltung von Kirchen und mit zeitgenössischen Interventionen im Sakralraum auseinandergesetzt. Welche Bedeutung hat das Projekt St. Hedwig für Sie?

Leo Zogmayer: Die Hedwigskathedrale am Berliner Bebelplatz liegt da wie ein offenes Buch. Und erzählt mit ihren überreichen historischen Referenzen bis zurück in die Antike überraschenderweise – was heute, was hier und jetzt zu tun ist. Der älteste Impuls entstammt der pantheologischen Idee eines Tempels für alle Götter in Rom, Friedrich II. hatte die prominent inmitten seines Forum Fridericianum platzierte Kirche ursprünglich für alle Religionen gedacht, und in den nächsten Jahren soll hier eine für alle Menschen offene christliche Kirche entstehen. Der runde Zentralbau wird sich als ideales Gefäß für eine Kirche erweisen, welche die Communio zur wesentlichen Liturgin erhebt. Das ist das Besondere und Außergewöhnliche an dieser Kathedrale: Obwohl die bauliche Vorlage fast 2000 Jahre alt ist, ermöglicht sie die allerschlüssigste Umsetzung der im Zweiten Vatikanischen Konzil formulierten Liturgie, sie birgt sogar ein Potential, das möglicherweise über dieses hinausweist. Selbstverständlich profitiert die Kathedrale von ihrer exzellenten Lage in der Stadt. Am selben Straßenzug wie das Holocaust-Denkmal von Peter Eisenman, nicht weit von Daniel Libeskinds Jüdischem Museum, der Museumsinsel und der Humboldt-Universität, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Staatsoper und der eben erst eröffneten Barenboim-Said-Akademie liegt das katholische Kathedralensemble inmitten des kulturell höchstrangigen Quartiers der Stadt. Und vieles erinnert in diesem Teil von Berlin an das welthistorische Ereignis des Mauerfalls im Jahr 1989, das für die Geschichte der Hedwigskathedrale und das aktuelle Projekt in mehrfacher Hinsicht inhaltlich bedeutsam ist.

Welchen räumlichen, ästhetischen und liturgischen Ideen folgt Ihr Umgestaltungsentwurf?

In St. Hedwig stellt sich gar nicht die Frage, wie welche ästhetischen Konzepte und liturgischen Programme zu importieren und an den Raum anzugleichen wären. Hier geht es in erster Linie darum, genau auf die historische Botschaft des Gebäudes zu hören und dieser konsequent zu folgen. Wie schon das Pantheon in Rom eine gebäudeförmige Fortschreibung antiker Philosophie und Theologie war, so realisiert auch die Hedwigskirche eine theologische Vision mit den Sprachmitteln der Baukunst. Ein Satz aus dem berühmten mittelalterlichen Liber XXIV Philosophorum bringt die Theologie des sphärischen Raums auf den Punkt: „Gott ist die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist.“ Dass die christliche Bautradition, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ein anderes Modell forcierte, ein längsachsiales, hierarchisches Bild mit Ausgrenzung eines heiligen Bereichs aus dem Raumganzen, ist bekannt. In unserem Entwurf zur Neugestaltung der Hedwigskathedrale versammelt sich die Gemeinde in konzentrischen Kreisen um das gemeinsame Zentrum des Altars. Dieser steht genau in der Mitte des monumentalen Rundraumes und bildet mit der Scheitelöffnung im Zenit der Kuppel und dem in der Unterkirche mittig platzierten großen Taufbrunnen eine starke Vertikalachse aus. Der Altar hat die Form einer Halbkugel und antwortet so wie ein komplementäres Gegenstück auf die über dem Zentralraum aufgespannte Kuppel. Die Stuhlkreise sind in sechs Sektoren angeordnet, fünf für die Gemeinde und der sechste für Ambo, Kathedra, Priestersitz, Konzelebranten, die Plätze des Domkapitels und die Messdiener. Alle liturgischen Orte befinden sich auf einer Ebene mit der versammelten Gemeinde. Einzig die Kathedra steht auf einem einstufigen Podest. In den Konchen kommen die spätgotische Mondsichelmadonna, ein frühgotisches Vortragekreuz, eine Stele mit permanent ausgelegtem Evangeliar und die berührende gotische Heiligenfigur mit Mitra, die 1980 als Geschenk von Johannes Paul II. nach Berlin gekommen war, zur Aufstellung und machen den Rundbau schon beim Betreten als katholischen Sakralraum lesbar. Die Unterkirche mit Werktagskapelle, Taufbrunnen, der Bernhard Lichtenberg Kapelle und den Bischofsgräbern wird man nach dem Umbau über eine Treppe von der Vorhalle aus erreichen. In den weiteren Räumen der Krypta setzen klassische, moderne und zeitgenössische Kunstwerke spirituelle Impulse. Einige Räume sind für temporäre Installationen vorgesehen.

Welche Qualitäten bringt die Umgestaltung mit sich? Welches Verständnis von Gemeinde, Partizipation und Individualität steht hinter dem Raumkonzept?

Wir lesen den Rundbau konsequent zentralräumlich und laden Zelebranten und Gemeinde ein, sich auf diese zugegebenermaßen ungewohnte räumliche Disposition einzulassen und die neue Intensität des Miteinanderfeierns zu entdecken. Die hin und wieder anklingende Befürchtung, der Raum überfordere Priester und / oder Gemeinde, ist nichts als Angst vor dem vermeintlich Neuen. Die angebliche Problematik der Konfrontation mit dem direkten Gegenüber etwa ist in der kreisförmigen Versammlung, zumal einer so weitläufigen wie hier, gar nicht gegeben. Anders als im Gegenüber geradliniger Reihen blickt man hier ins Rund der versammelten Gemeinde, in die man sich aufgenommen erlebt. Bewusst werden auch eigens für die Berliner Kathedrale entworfene Stühle und keine Bänke vorgeschlagen. Sitzmöbel für den Gottesdienstraum sind Objekte, mit denen alle GottesdienstteilnehmerInnen in unmittelbaren Kontakt kommen. Sie sind daher bedeutsame, meist unterschätzte liturgische Geräte, bildhafte Platzhalter für die Gläubigen. In herkömmlichen Kirchenbänken wird die Gemeinde quasi formatiert und zum zentralen liturgischen Geschehen wie auch zu den Mitfeiernden auf Distanz gehalten. Mein Religionslehrer im Gymnasium vertrat noch die Auffassung, wir sollten gar nicht wissen, wer neben oder vor uns in der Bank sitze.

Sie selbst haben von einer „Kathedrale des 21. Jahrhunderts“ gesprochen: Wodurch ist eine solche gekennzeichnet?

Unsere Vision ist es, die Hedwigskathedrale in Berlin-Mitte als sichtbares und lebendig wirksames Zeichen des Friedens und der Versöhnung zu etablieren. Insofern hebt sich St. Hedwig von den historischen Kathedralen ab, die, neben ihrer spirituellen Zeichenhaftigkeit, als Nationaldenkmäler lautstark politische Macht demonstrierten und häufig zu Zielscheiben militärischer Angriffe wurden. Die gegenwärtige Gesellschaft erwartet sich heute mit gutem Recht einen Beitrag der Religionsgemeinschaften für eine friedlichere Welt. Friedensarbeit kann aber nur gelingen, wenn sie zuerst einmal im eigenen Umfeld praktiziert wird. Wenn du dich erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann geh, versöhne dich zuerst mit ihm, dann komm und bring deine Gabe dar! – heißt es bei Matthäus. Versöhnung zuerst! Am Anfang steht die Bildung der Communio. Verweigern wir uns diesem Appell, reduziert sich der Kult auf eine ideologische Übung, und sei sie noch so feierlich. Im Zusammenhang mit der Debatte um eine neue Achsenzeit der radikalen Globalisierung wird gesagt, dass die Menschheit der Zukunft eine Menschheit des globalen Dialogs sein wird – oder sie wird nicht mehr sein! Die globale Situation nötigt uns gleichsam zur Transformation der Menschheit in eine planetarische Gemeinschaft. Unter dem neuen Paradigma des globalen Dialogs werden Gläubige und Religionsgemeinschaften endlich beginnen müssen, sich von ihren Eitelkeiten und Egoismen zu befreien und offen und vorurteilsfrei zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten.

Ideale Kirchenbau- und Raumkonzepte wurden vor und nach 1945 immer wieder verkündet, standen nachfolgend aber immer auch in heftiger Kritik. Vor dem Hintergrund unserer schnelllebigen Zeit und einer zunehmend individualisierten Gesellschaft mit labilen, meist kurzlebigen posttraditionalen Gemeinschaften erscheint es mir gewagt, wieder von Idealmodellen zu sprechen.

Ich teile ihre kritische Skepsis bezüglich der Formulierung „Idealmodell“. Doch lassen sie uns die Frage etwas grundsätzlicher betrachten. Die abendländische Kultur konnte ihre Überlegenheit in Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Mobilität usw. so rasch entwickeln, indem sie praktisch ganz auf die Methode der Modell-Bildung setzte und setzt. Fragen, Problemstellungen des realen Lebens werden als kontrollierbare, verstehbare Szenarien simuliert oder ganz neu gebaut. Die Gefahr liegt darin, dass mittels der Modelle Parallelwelten kreiert werden, die zwar in sich schlüssig erscheinen, aber mit der Wirklichkeit, von der man ausgegangen war, nicht mehr viel zu tun haben. So generierten oder modellierten wir einen noch nie dagewesenen Reichtum und Überfluss, der uns aber aufgrund seiner Welt-Fremdheit beileibe nicht zufriedener oder erfüllter leben lässt. Die andere Möglichkeit, sich in der Welt zu bewegen, liegt im behutsamen Ausgreifen, das darauf achtet, stets im Modus der Anschmiegung an die Wirklichkeit zu bleiben, wo auch gelegentliches Innehalten die Fortbewegung zügelt. Die sich in solchen Gangarten zeigenden Bilder könnten wir Urbilder nennen. Sie bleiben mit ihrem Anlass und Ursprung in Berührung. Die meisten Religionen warnen ja dezidiert vor „gemachten Bildern“ und sprechen Verbote aus. Im Spirituellen taugt nämlich nur das Urbildliche. Die (etwas abgeflachte) Berliner Kugel am Bebelplatz entstammt solch einem zeitlosen Urbild. Hier wurde kein Ideal-Modell konzipiert, das nach Erlöschen einer Mode, der es sich verdankt, unbrauchbar zu werden droht. Unser Entwurf legt dieses radikale Zeichen frei – dass es lesbar wird und seine Wirkung entfalten kann.

Welche Rolle übernimmt die Kunst in der Kirche?

Die Künste sind die Dienstmägde der Theologie schrieb Dante im Convivio, in einem etwas anderen Kontext. Einverstanden. Wenn die Magd nicht blind gehorchen soll, sondern sehend und hörend, dem Schauen selber verpflichtet, ihren Dienst leistet. Denn das ist der Job der Künstler: schauen! Hierin liegt auch die innige Affinität zwischen Kunst und Theologie, wenn sich nicht letztere ohnehin von theorein – schauen – ableitet. In unserer Macherwelt begreift ja kaum noch jemand, was das heißt – schauen. Diese vielleicht stillste aller Tätigkeiten ist zugleich die mächtigste. Sodass Ludwig Wittgenstein den Künstler als Realist beschreibt, der „die Welt dadurch erlöst, dass er sie sieht, wie sie ist.“ Auch die Liturgie, die ars celebrandi, müsste eine Kunst des Augenöffnens sein. Um unseren kleinen Kunst-Exkurs abzurunden, würde ich noch gerne eine paar Beobachtungen zur Schönheit anschließen. Schön kommt von schauen. Und ich übersetze das Wort daher einfach mit sichtbar – was mit barer Sicht zu tun hat. Aus wissenschaftlicher Perspektive gibt es das gar nicht, weil geglaubt wird, dass jede Weise des Sehens gelernt wurde. Nun gibt es „bares Schauen“ gewiss nicht als etwas Isolierbares, das sich im Labor untersuchen lässt. Gleichwohl ereignet es sich. Bei diesem offenen Schauen geht es um eine rezeptive Haltung zwischen Aktivität und Passivität, eine Art entspannte Wachheit. Es ist ein überwiegend kontemplatives Wahrnehmen, das uns offenbaren kann, dass Wirklichkeit reicher ist als alle Erscheinungen, die wir in der Sprache begrifflichen Erkennens fixieren können. Um diesen anderen Reichtum geht es, wenn wir vom Schauen reden – und vom Schönen, dem trotz aller Brechungen der Moderne noch immer zentralen Topos der Kunst.

Partizipation auch als Rückbindung der Kirche in das Leben soll bei Ihnen nicht nur in der liturgischen Feier im gewandelten Kirchenraum stattfinden, sondern umfassend über diverse Angebote im neu konzipierten Domquartier erfolgen: können Sie Ihre Ideen dazu erläutern?

Zum Domquartier gehören neben dem religiösen Zentrum der Kathedrale der neue Kirchplatz, derzeit eine unansehnliche, kaum nutzbare Restfläche, das „alte“ Lichtenberghaus, das seine historische Außenhaut aus dem 19. Jahrhundert bewahren soll, jedoch im Inneren räumlich neu strukturiert wird, und ein Neubau, das „neue Lichtenberghaus“. In dessen Erdgeschoß ist ein Kaffeehaus geplant. Eine Art Lesecafe mit ausgewähltem Buch- und Zeitschriftenangebot, eine Oase zum Verweilen, die sich deutlich von den kommerzorientierten Lokalen im Umfeld abhebt. Dieses Kaffeehaus spielt seit den ersten Entwurfsschritten für Peter Sichau und mich eine wichtige Rolle im Ensemble. Als Agape-Ort sehen wir es in einem liturgischen Kontext zur benachbarten Bischofskirche. Natürlich wünschen wir uns auch einen feinen, gut sortierten Shop, vielleicht ein kirchliches Novum, kein Kitschladen, vielmehr ein herzeigbarer Ort mit exzellentem Buchangebot und inspirierenden, gut gestalteten Dingen für den alltäglichen Gebrauch. Neben Archiv, Büros, Gästewohnungen etc. finden hier auch Probe- und Unterrichtsräume des Kathedralchors Platz.

Aktuell wird bei Kirchenumbauten häufig die Öffnung des Sakralraums für alle Menschen unabhängig ihrer Religionszugehörigkeit hervorgehoben. Kontemplative Leere im religiösen Sinn findet scheinbar seine Fortsetzung in der Einfachheit und Dekorationslosigkeit als ästhetische Kategorie. Führt das Angebot als multifunktionaler und „multireligiöser“ Kontemplationsort zur Neutralisierung als christlicher Sakralraum?

Da müssten wir zuerst fragen, was das wäre, ein unverwechselbarer christlicher Sakralraum. Ein Raum mit Lettner oder mit Kommunionschranken, eine bild- und farblose frühromanische Zisterzienserkirche, ein süddeutsches Rokokokirchlein, vollmöblierte Neugotik oder ein Betonkubus der 1960er Jahre? Jede Zeit hat um ihre Sprache für das Zeitlose gerungen, hat das Formlose mit Bildern überfahren oder auf subtile Weise ent-deckt. Wenn die letzten Dinge inszeniert statt gefeiert werden, versagt die Kunst und wird künstlich. Wir alle kennen mit ikonografisch eindeutig kodiertem Sakralkram vollgestopfte Kirchen, die spirituell gar nichts können, eher Brutstätten der Idolatrie sind, und „leere“ Kirchen, in denen die andere Fülle, um die es geht, uns den Atem stocken lässt. Es gibt prächtige sakrale Inszenierungen, die uns abstoßen und es gibt Räume, die uns unmittelbar in ihre zeitlos stille Feier hineinnehmen. Es stimmt schon, dass in letzter Zeit da und dort eine Art Boutiquenästhetik in die Kirchen einzieht. Die schicke Einfachheit zeitgenössischer Modelabels. Ich bin aber kein Trendforscher. Mich interessiert die je konkrete Situation. Man muss genau schauen und zwischen Minimalismus als Stil, als Attitüde – und formaler Reduktion als legitimer, sogar gebotener ästhetischer Strategie unterscheiden. Die ist dann nicht nur verwandt mit spiritueller Askese, sondern entspringt der selben Haltung. Und lässt Räume entstehen, Situationen, Klänge, die nicht neutralisierend, sondern klärend, befreiend, sogar erlösend wirken können.

 

Erschienen in Kunst und Kirche, 03/2017

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