KUNST SAGEN UND DAS GANZE MEINEN

Karl Baier

 

 

 

Komm! ins Offene, Freund!

Friedrich Hölderlin: Der Gang aufs Land

 

 

Der Spruch Leo Zogmayers „Wenn ich Kunst sage, meine ich das Ganze“, gehört, wie er sagt, „zum Besten, was mir in den letzten Jahren geschenkt wurde.“[1]  Er ist einer von seinen Wortfunden, äußerst knappen Formulierungen, die oft aus nicht mehr als einem Wort oder einem Wortpaar bestehen, die in verschiedenen Gestaltungen präsentiert werden.[2] Es handelt sich dabei um Worte, die einem kommen; Träumen vergleichbar, von denen man nach dem Erwachen sagt „Es träumte mir“. Nicht von ungefähr spricht Zogmayer im obigen Zitat davon, dass ihm dieser Satz geschenkt wurde. Er ist ebenso wenig einfach seine „Erfindung“ wie Träume von den Träumenden willentlich produziert werden. Was selbstredend nicht heißt, dass der, dem solche Worte einfallen, an ihnen gänzlich unbeteiligt ist, wie ja auch Geträumtes nur dem widerfährt, der darauf eingestimmt ist. Der Künstler notiert solche Einfälle und meditiert sie immer wieder, um ihre Stimmigkeit und über eine momentane persönliche Befindlichkeit hinausgehende Relevanz auszuloten, bevor er sie, wenn sie diese Prüfung bestanden haben, in sein öffentliches Schaffen einfließen lässt. Wie Träume, Mythen und Symbole sind sie durch einen Bedeutungsüberschuss ausgezeichnet, den keine Interpretation einholen kann. Sie bergen ein semantisches Potential, das kreative Antworten evoziert und laden dazu ein, immer wieder neue Verständnisräume aufzuspannen, in denen sie jeweils anders zu sprechen beginnen.

Im Folgenden werden drei Manifestationen von „Wenn ich Kunst sage, meine ich das Ganze“ aufgesucht: als Textintervention im öffentlichen Raum anlässlich der Eröffnung der neuen Landesgalerie Niederösterreich; als Wortbild im Eingangsbereich des bischöflichen Büros in Innsbruck und schließlich als Beitrag zu einem Buch, der auf eine Beziehung zwischen dem Spruch und Zogmayers Gestaltung liturgischer Räume hinweist. Meine Recherchen nähern sich Zogmayers Kreationen mit einem polyphonen Reigen von Geschichten und Statements, die durch sie hervorgerufen wurden und auf die ich kommentierend antworte. Alle Stimmen sind im Recht, insofern sie jeweils von ihrer Warte aus im Spruch angelegte Bedeutungen und Verweise ins Spiel bringen.

 

 

Das Gespräch mit dem Philologen

 

Fasziniert, aber auch einigermaßen ratlos ob des Spruches, fragte ich zunächst einen Sprachliebhaber, ob er mir weiterhelfen könne. Er reagierte in der für ihn typischen, etwas umständlichen Art:

Für Tiefsinnigkeiten fühle ich mich nicht zuständig, und was der Spruch davon enthalten mag, lässt sich mit meinen beschränkten Mitteln nicht herausfinden. Aber vielleicht hilft es ja erst einmal von großen inhaltlichen Interpretationen abzusehen und die Satzform „Wenn ich x sage, dann meine ich y“ zu betrachten. Es handelt sich grammatikalisch um einen Bedingungssatz, der in der Realität erfüllbare Bedingungen dafür angibt, dass etwas Bestimmtes getan wird oder geschieht. In diesem Fall verbindet der Sprechende das Aussprechen eines Wortes mit dem Meinen einer Bedeutung, die für ihn mit diesem Wort verbunden ist, oder mit der Angabe, was er/sie damit in erster Linie verbindet.

Wann und warum spricht jemand so? Worauf zielen solche Aussagen ab? Diese wie jede andere Sprechweise hat je nach Situation und Anliegen des Sprechenden eine unterschiedliche Bedeutung. In jedem Fall macht es nur Sinn so zu reden, wenn die Relation zwischen dem Gesagten und dem mit ihm Gemeinten sich nicht von selbst versteht. Tatsächlich ist es ja oft nicht fraglos einleuchtend, was man mit einem bestimmten Wort oder Sprechakt meint bzw. wie sie gemeint sind.

Können Sie, um das zu veranschaulichen, einige Beispiele nennen?, hakte ich nach.

Ja, selbstverständlich. Ein klärender Hinweis mittels dieser Redewendung ist etwa am Platz, wenn die Bedeutung eines Wortes bei den Zuhörenden unbekannt ist und sie ein anderes Wort dafür kennen („Wenn ich Kren sage, dann meine ich Meerrettich“). In anderen Situationen ist es angebracht, sich mit dieser Formulierung verständlich zu machen, indem man die gemeinte Bedeutung umschreibt bzw. definiert („Wenn ich Fiaker sage, meine ich eine zweispännige Lohnkutsche für die Wien bekannt ist“).

Wieder ein anderer Fall liegt vor, wenn das Wort zwar vertraut ist, aber mehrere Bedeutungen hat und der Sprechende deshalb präzisieren muss, auf welche davon sie/er sich bezieht, um etwaige Missverständnisse auszuräumen oder zu vermeiden („Wenn ich Fiaker sage, meine ich die Kutsche dieses Namens und nicht ihren Kutscher“) oder etwa um mitzuteilen, auf welche Theorie sich ein Fachterminus bezieht („Wenn ich von Individualisierung spreche, dann meine ich das im Sinn der Beck’schen Theorie“).

In den bisherigen Beispielen ging es um die Erklärung einer Wortbedeutung. „Wenn ich x sage, meine ich y“ heißt in diesem Fall:  Ich verbinde mit dem Wort x die Bedeutung y. In anderen Situationen, in denen diese Satzform verwendet wird, kann vorausgesetzt werden, dass das Wort in seiner Bedeutung verstanden wird, sodass der Sprechende keinen Anlass hat zu verdeutlichen, was damit gemeint ist. Erläuterung verlangt vielmehr das Wie der Aussage. Ist sie ernst gemeint oder nur so dahingesagt, soll sie ironisch, symbolisch, stricto sensu etc. verstanden werden („Wenn ich ‚Mach das jetzt!’ sage, dann meine ich das so!“).

Eine weitere Variante fällt mir dazu noch ein, ergänzte ich. Sie bezieht sich ebenfalls nicht darauf, was für eine Bedeutung mit einem Wort oder einem Sprechakt verbunden ist, jedenfalls nicht direkt, sondern teilt mit, an welche Personen, Dinge oder Vorgänge man bei einer Sache besonders denkt, sei es als Musterbeispiele dafür oder als etwas, worauf es dabei vor allem ankommt, ohne anderes auszuschließen, das ebenfalls wichtig ist („Wenn ich Yoga sage, meine ich dieses achtsame Gewahrsein“). Aber, um nun auf den Spruch Zogmayers zurückzukommen, was bedeutet er nach dem, was wir besprochen haben, aus ihrer Sicht?

Er lässt sich meiner Meinung nach, antwortete der Sprachliebhaber, am ehesten zwei Varianten der skizzierten Verwendungsweisen dieser Satzform zuordnen. Da es ja nicht ausgemacht ist, was jemand unter Kunst versteht, kann es sich um eine Umschreibung oder gar einen Definitionsversuch handeln, die angeben, welche Bedeutung dieser schillernde Ausdruck für den Künstler hat. Allerdings ist der dafür herangezogene Terminus „das Ganze“ so umfassend und vage, dass damit mehr Fragen generiert als beantwortet werden, was möglicherweise beabsichtigt ist.

Da haben Sie wohl Recht, sagte ich. Meint Zogmayer etwa, dass das Universum so etwas wie ein Kunstwerk ist, das für alle menschlichen Werke als Vorbild dienen sollte, so dass er zuerst daran denkt, wenn er von Kunst redet?

Oder weist er doch eher auf Näherliegendes hin, gab darauf mein Gesprächspartner zu bedenken. Vielleicht spielt er auf all die konkreten Umstände an, die er beim Schaffen von Kunst im Blick hat? Dabei spielen ja verschiedene Faktoren eine Rolle. Der Satz könnte meinen, dass Zogmayer sie alle in ihrem Zusammenhang berücksichtigt und in seine Projekte einfließen lässt, so dass er von Anfang auf dieses „Ganze“ achtet – also z. B. nicht nur auf seine eigene künstlerische Linie, sondern auch auf bauliche Vorgegebenheiten, die Interessen des Auftraggebers, das passende Material, etc. Möglicherweise steht „das Ganze“ aber doch für die Welt im Ganzen, aber nicht so sehr als Prototyp eines Kunstwerks, sondern als das, was der Künstler in seinem gesamten Werk im Sinn hat, insofern er durch seine Tätigkeit ihre unbelastete Wahrnehmung jenseits eingefahrener Gewohnheiten und Denkmuster fördern will. Verschiedene frühere Äußerungen Zogmayers, von denen Sie mir erzählten, weisen ja darauf hin, dass er seine Arbeit so versteht. Solche Spekulationen gehen aber schon über den Bereich hinaus, in dem ich mich auskenne, und ich möchte es dabei bewenden lassen.

 

Die Geschichte vom Teer und der Landesgalerie

 

Zum ersten Mal wurde der Spruch als Textintervention zur Eröffnung der neuen Landesgalerie Niederösterreich öffentlich präsentiert. Leo Zogmayer wollte seinen Satz ursprünglich auf die Straße zwischen dem Museum und dem daneben befindlichen Anlieferungsgebäude geschrieben haben. Da die Straße jedoch zu spät im Jahr geteert wurde,wollte der Stich in ihrer Mitte in der Herbstkühle nicht richtig zusammenschmelzen, und so wurde nichts aus diesem Vorhaben. Jede Kunst ist in ein komplexes Netz von Bedingungen eingefügt, ins Ganze eben, an dem sie gestaltend teilnimmt, das hat der Philologe oben schon zu Recht erwähnt. Sie ist darauf angewiesen, sich materiellen Umständen ebenso wie sozialen Dynamiken und religiösen Auffassungen einzuschreiben. Die Bewegung in diesem Geflecht macht dem anfänglichen Konzept des Künstlers immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Dies nimmt Zogmayer, der darin besonders mit seinen Kirchenprojekten wahrlich viel Erfahrung hat, zum Anlass, sich zurückzunehmen und erneut auf die verborgene Neigung der Dinge zu horchen und ihr besser zu entsprechen. „Nachteil ist Vorteil und Vorteil ist Nachteil“, wie Nagaya Roshi gerne sagte, um die Relativität menschlicher Wertungen auf den Punkt und seine Schüler in die Haltung des Nichtwertens zu bringen. Im Fall des Kremser Problems entpuppte sich der vordergründige Nachteil schon bald als Vorteil. Der Satz wurde schließlich in Versalien auf die Betonwand des der Kunsthalle gegenüberliegenden Gebäudes geschrieben, wo er viel besser zur Geltung kommt. Er ist jetzt auch vom Inneren der Kunsthalle aus lesbar und spricht damit von außen in die Ausstellungsräumlichkeiten hinein.

Wie wurde Zogmayers auf die Landesgalerie in Krems bezogene Intervention aufgefasst? Ein ausführlicher Artikel zum Pre-Opening des neuen Baues in einer österreichischen Tageszeitung betont den programmatischen Charakter des Spruches für das Gesamtprojekt. [3] Von den Verantwortlichen sei von Anfang an mitgedacht worden, dass das Museum Architektur, Kunst und die Umgebung des Baus als ein Ganzes erlebbar machen soll. Der künstlerische Leiter des Museums, Christian Bauer, hebt hervor, dass es dazu auch wichtig gewesen sei, dass man das Museum nicht auf ein Podest stelle, sondern „aus der Normalität des Asphalts“ wachsen lasse, was durch den grauen Terrazzo-Boden im Erdgeschoß unterstrichen werde. Außerdem würden die großen Bogenfenster den Blick zur Kunsthalle, zum Stadtteil Stein, zur Betonwand mit Zogmayers Spruch und zum Kreisverkehr nahe der Donau freigeben. Das Gebäude öffne sich nach draußen „zur Welt, wie sie ist“ und lade alle passierenden Menschen ein, hereinzukommen.

Die Ausgabe 263 der niederösterreichischen Kulturzeitschrift morgen widmete der Landesgalerie ein Special mit mehreren Beiträgen. Die Einleitung dazu (wohl aus der Feder der Chefredakteurin Nina Schedlmayer) ist betitelt „Gehen wir auf’s Ganze!“ und nimmt direkt auf Zogmayers Intervention Bezug.[4] Hier wird schon im Titel das „Ganze“ aus Zogmayers Spruch als Stichwort aufgenommen und gleichsam mit Pauke und Trompete instrumentiert. Die Zeitschrift wirbt ja für die Kultur des Bundeslandes. Bemerkenswerter ist, dass der Artikel die Frage, was denn mit „das Ganze“ gemeint sein könnte, explizit stellt, in gewisser Weise auch beantwortet und auf das Verhältnis von Kunst und Museum im Allgemeinen bezieht:

Das Ganze: Umfasst das die materiellen Zutaten eines Kunstwerks? Die Inspirationen, die Quellen, die Ideen, die seiner Produktion vorangingen? Die gemeinsamen Anstrengungen, die zu dessen Präsentation unternommen werden? Oder das, was ein Kunstobjekt an Neuem hervorbringt: andere Werke, literarische Texte, Theorien oder ein Theaterstück? Fest steht: Kunst existiert nicht für sich allein, sondern immer im Kontext ihrer Produktion und Rezeption. Ein Museum speichert dieses „Ganze“ – und gibt es wieder frei.

Das Museum wird im Licht von Zogmayers Satz als Sammlungs- und Aufbewahrungsort („Speicher“) für Kunst und die Erkenntnis aller Bezüge, die sie mit ausmachen, gesehen; ein Ort, der dieses Ganze nicht wegsperrt, sondern dafür da ist, für seine Zugänglichkeit zu sorgen, das Gesammelte für die interessierte Öffentlichkeit freizugeben.

 

Die Geschichte mit den Tiroler Seligen und dem künstlerischen Bischof

 

Hermann Glettler, Bischof der Diözese Innsbruck, ist nicht nur Theologe und Priester, sondern auch Kunsthistoriker und bildender Künstler. Er kennt Leo Zogmayer seit vielen Jahren und erwarb eine als Hinterglasmalerei gestaltete Version seines Spruchs, die nun im Eingangsbereich des bischöflichen Büros im Bischofshaus am Domplatz von Innsbruck hängt.

Dem Bild direkt gegenüber befindet sich eine Galerie mit Photographien der Tiroler Seligen, die während der Nazizeit hingerichtet wurden. Sie erinnert an die Schrecken dieser Jahre und das großartige Beispiel derer, die sich nicht beugen ließen und für ihre Regime-Kritik, Menschen- und Gottesfreundlichkeit mit dem Leben zahlten. Zogmayers Wortbild bleibt nicht unberührt von seinem bedeutsamen Gegenüber. Im Glas spiegeln sich die Gesichter der Seligen, Lichtspuren aus finsterer Zeit. Kunst, die das Ganze meint, so lässt sich diese beeindruckende Installation deuten, ergeht sich nicht in stumpfer Beziehungslosigkeit oder ästhetizistischer Selbstbezüglichkeit, sondern gibt den schlimmen und doch vorbildhaften Schicksalen der Märtyrer Raum. Sie und mit ihnen die Erinnerung des Grauens gehören in das gemeinte Ganze, das keine bloße Wunschvorstellung ist, die ein allzu menschliches Harmoniebedürfnis befriedigt.

Via E-Mail fragte ich Bischof Glettler, was ihn an Zogmayers Wortbild anspricht. Er antwortete mit einem Statement, das seine Auseinandersetzung mit dem Werk konzis zusammenfasst:

Mich irritiert und erschreckt die Klarheit und angezeigte Totalität: Das Ganze meinen. Dieser Ausgriff ist doch alles andere als eine bescheidene Ansage – noch dazu in dieser formalen Präzision und Unbestechlichkeit.

Ich verstehe, dass in jedem Fokus auf einen Teilbereich unseres Lebens immer auch das Ganze mitverhandelt wird. Wenn ich mich mit dem Detail eines Briefes beschäftige, meine ich auch das Ganze. Wenn ich um ein Wort ringe, dann geht es um den gesamten Text. Wenn sich eine Pflegekraft bemüht, mit ihrer schwer behinderten Klientin Körperhygiene zu machen oder einem Demenzerkrankten das Mittagessen möglichst würdevoll zu verabreichen, dann meint sie auch das Ganze, den ganzen Menschen. Das Fragment, das unscheinbare Bruchstück ist von Bedeutung für das Ganze. Menschsein geschieht immer im Fragment, aber auch im Ausgriff auf ein Ganzes, das Sinn vermittelt.

Die analoge Verwendung des Spruchs geht dann noch ein Stück weiter: Wenn ich Glaube sage, meine ich das Ganze. Das sagen die mit Foto repräsentierten Personen, die sich während der totalitären Nazi-Herrschaft auf keinen Kompromiss einließen. Wenn ich Liebe sage, meine ich das Ganze. Wünschenswert in dieser Verbindlichkeit. Kein leeres Versprechen, sondern ganze Gabe des Lebens, durchdekliniert in den alltäglichen Herausforderungen. Wenn ich Gott sage, meine ich selbstverständlich das Ganze. Schon der Name deutet über alles hinaus, was uns zu begreifen und zu erfassen möglich ist.[5]

 

Hermann Glettler spricht zunächst eine Erfahrung an, die man in der Begegnung mit Kunst unweigerlich macht: den gewaltlosen Stoß, das überraschend Anrührende ihres Erscheinens, wodurch alle bedeutende Werke, wie Adorno bemerkte, dem Ertönen von Musik ähneln. Nach Glettler kommt diese Art von Irritation beim Betrachten von Zogmayers Wortbild durch das Zusammenspiel seiner unbestechlichen formalen Genauigkeit mit der Klarheit des präsentierten schlichten Satzes zustande, eines Satzes, der doch zugleich etwas ungeheuer Anspruchsvolles und Unauslotbares sagt. So kommt, alles zusammengenommen, die transgressive Macht der Schönheit ins Spiel, die den Betrachter berückt und zugleich aus dem Umkreis des Gewohnten herausrückt.

Glettler antwortet in seinem Statement auf diesen Anstoß mit einer Reflexion zum Verhältnis von Fragment und Ganzem, in der er betont, dass selbst noch unscheinbare Teile von Bedeutung für das Ganze sind. Er gibt schöne Beispiele dafür, wie in jedem Teilbereich des Lebens, in jedem Detail das Ganze, zu dem es gehört, mitanwesend ist. Die Pflegekraft etwa, die einem Patienten Essen verabreicht und darauf achtet, dass nichts daneben geht, ist bei ihrer Tätigkeit nicht nur besorgt, dass das Essen im Mund des Patienten landet. Sie ist für den ganzen Menschen da, nimmt sein weltoffenes, wenngleich gehandicaptes Anwesen wahr und würdigt es auf eine schlichte und doch bedeutsame Art und Weise.

Menschliches Leben, so das philosophische Resümee Glettlers, sei zwar immer fragmentarisch, greife aber doch auch stets auf ein sinnvolles Ganzes aus. Mit Blick auf seine überzeugenden Beispiele kam mir die Frage, ob „Ausgriff“ das rechte Wort für den Bezug des Menschen zum Ganzen ist. Wie geht das wohl, nach dem Ganzen ausgreifen? Wohin und wonach greifst Du da? Bleibt man bei diesem Unterfangen nicht unausweichlich mit leeren Händen zurück? Warum also Greifen? Und selbst wenn man annimmt, dass es sinnvoll ist, nach dem zu greifen, das niemals er- und begriffen werden kann (weil auch der Weg der scheiternden Versuche etwas lehrt): erfolgt nicht alles Ausholen als Kraftakt des Subjekts in einen schon vorher und auf nicht-greifende Weise eröffneten Bereich hinein?

In einer weiterführenden Reflexion zum religiösen Glauben, gibt Glettler schließlich der Wendung „das Ganze meinen“ dann noch einen bedenkenswerten weiteren Sinn, der bisher nicht zur Sprache kam und der auf eine nicht-greifende Öffnung hinweist: die verbindliche Hingabe des ganzen Lebens, die sich auf Gott als das unbegreifliche Geheimnis des Ganzen einlässt und in alltäglichen Dingen bewährt.

 

Zu Besuch in der Ontologie-Vorlesung

 

Vor vielen Jahren hörte ich als Philosophiestudent die Ontologie-Vorlesung meines Lehrers, späteren Chefs und Freundes Augustinus Wucherer. Besonders seine Ausführungen zu den Transzendentalien des Seins (Einssein, Ganzsein, Wahrsein, Gutsein und Schönsein) im Kontext des Erfahrens und Denkens des Ganzen schrieb ich damals mit heißen Ohren mit. Sie blieben wegweisend für mein Denken und meine Meditationspraxis. Beim Nachdenken über den Spruch von Leo Zogmayer stieg die Erinnerung an den Abschnitt der damaligen Vorlesung auf, in dem die Transzendenz des Da-seins als Grundlage für die Erkenntnis der Transzendentalien behandelt wurde.[6]

Wucherer stellte seinen Ausführungen zu den Transzendentalien die Erörterung der Frage voran, wie wir des Seienden im Ganzen, auf das sich diese allumfassenden Namen des Seins beziehen, innewerden können, wo wir doch anscheinend die Erfahrung machen, dass uns im Wahrnehmen niemals ein Ganzes gegeben ist und schon gar nicht das Ganze schlechthin, sondern immer nur Fragmente, Aspekte, Momente. In dieser Situation läge es nahe anzunehmen, dass das Ganze kein erfahrbares Phänomen ist, sondern etwas wie eine leitende Idee, mittels derer die menschliche Vernunft auf die unerreichbare Ganzheit vorgreift, sie vorstellt und dadurch die menschliche Erfahrungswelt sowie das Erkennen und Handeln in ihr organisiert.

Er lud seine Hörerinnen und Hörer ein, diese Art des Ganzheitsdenkens auf sich beruhen zu lassen, und sich stattdessen auf die Erfahrung des Da-seins zu besinnen und aus ihr zu denken. Darin würde sich das Ganze von ihm selbst her öffnen und man könnte leibhaftig in seine Gegenwart eintauchen. Allerdings sei dies nicht selbstverständlich, es bräuchte schon etwas Übung, um aus der gewohnten Zerstreutheit herauszufinden. Das Innewerden des eigenen Gesichts, der Hände, des Aufruhens auf dem Boden, und des Atems, der aus- und eingeht, sei dazu hilfreich. Wichtig sei, zunächst alle Akte des vorstellenden Denkens zurückzunehmen, sich zu sammeln, der Stille Raum zu geben und in tiefem Schweigen anwesend zu werden. Dann würde sich eine Weite ausbreiten, ein Anwesenheitsraum, in dem wir immer mehr mit allem, was uns umgibt, mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbunden sein würden. Diese Erfahrung sei heilsam, weil man durch sie erst richtig ganz werden würde. Aus ihr entspränge ein dem Sein im Ganzen und seinem Grund entsprechendes Denken und Handeln sowie das künstlerische Schaffen.

Mein Professor kritisierte in dieser Vorlesung auch eine einflussreiche Form des Ganzheitsdenkens, die das Ganze den Teilen überordnet („das Ganze ist mehr als die Teile!“) und deren Sinn nur in ihrem Beitrag zum Ganzen sieht. Die wahre Stärke eines Ganzen zeige sich dagegen darin, inwieweit es gerade nicht autoritär herrscht, sondern die Einzelmomente im Verbund zu selbstständigem Eigensein freizugeben vermag. Das ursprüngliche Ganze, die in der Praxis der Sammlung zugängliche offene Weite, sei von dieser Art.

 

Eine Zen-Geschichte

 

Eines Tages besuchte Herr Keuner Meister Yakusan.

Er fragte ihn: Was ist das Herzstück des Weges der Künste?

Yakusan antwortete: Das Ganze schauen.

Herr Keuner darauf: Und wie steht es mit der Hecke am Gartenzaun?

Da lachte Yakusan und verbeugte sich.

Herr Keuner aber ging hin und schnitt die Hecke, bis nur mehr einige Zweige wie zufällig herausragten.

 

Maria Geburt und der Communio-Raum

 

Eine letzte Geschichte gibt es noch zu erzählen. Sie führt uns in einen von Zogmayer konzipierten Kirchenraum. 2019 erschien der bisher letzte von drei liebevoll gestalteten Bänden, die in Wort und Bild darstellen, welche Prozesse die Gemeinde von Maria Geburt in Aschaffenburg aufgrund der radikalen Neugestaltung ihrer Kirche vor zwanzig Jahren durchlief. Neben einer Reihe von Frauen und Männern aus der Gemeinde, die von ihren Erfahrungen berichten, enthält der Band Texte von Gastautoren. Als für den Umbau maßgeblich verantwortlicher Künstler wurde auch Leo Zogmayer um einen Beitrag gebeten. Er wählte dafür seinen Spruch über die Kunst und das Ganze, der nun in der Mitte der sonst weißen Seite 65 steht. Auf der gegenüberliegenden Seite sagt der Künstler etwas zu seinem Beitrag und Markus Krauth, der Pfarrer von Maria Geburt, antwortet darauf. Fast als wolle er möglicher Kritik zuvorkommen, die ihm vorwerfen könnte, er hätte nur einen einzigen Satz zu der Publikation beigesteuert, betont Zogmayer, wie wichtig ihm dieser Spruch sei, und dass er ihn nicht leichtfertig zur Veröffentlichung freigebe. Er begründet seine Wahl damit, dass der Spruch in Resonanz zu den anderen Texten des Bandes stehe, die aus der Erfahrung des Ganzen von Raumgestaltung und liturgischen Vollzügen sprechen. „Hier erklingt er inmitten der Textbeiträge von Menschen, die sich vom Raum, der Kunst und dem Feiern der Liturgie berühren, wandeln, irritieren und erneuern lassen …“[7]

Der liturgische Raum hat als Raum für Kunst einen Vorzug gegenüber dem Museum. Kunst wird in ihm nicht zum Ausstellungsgegenstand. Der gestaltete Raum als solcher und die Werke in ihm treten nicht primär als Betrachtungsobjekte in den Vordergrund. Ihre Schönheit entfaltet sich im liturgischen Geschehen, zu dem sie das Ihre beitragen, sei es nun gemeinschaftlicher Gottesdienst oder individuelle Besinnung der Meditierenden und Betenden. Wie Pfarrer Krauth aus seiner liturgischen Erfahrung in dem von Zogmayer gestalteten Raum sagt, bleibt das Wesentliche an der Kunst verborgen, solange der Betrachter seine Aufmerksamkeit auf das Werk richtet und in einer zwar respektvollen, aber doch abständigen Trennung verharrt. Im liturgischen Umgang mit dem Werk ist es dagegen möglich, sich selbst und das Werk als „durchtönt und durchdrungen vom Ganzen wahrzunehmen“, das sich für ihn als schwingende Bewegung zwischen der Schöpfung und ihrer göttlichen Quelle zeigt.[8]

Die von überflüssigem Bildwerk und Mobiliar befreite Kirche Maria Geburt lädt zum Da-sein in gesammeltem Wahrnehmen und Tun ein. Wer sie betritt, wird gegenwärtiger. Ihr kreisrund gestalteter Communio-Raum lässt jedes Gemeindemitglied von seinem Platz aus mit dem unzerteilten Raum der liturgischen Versammlung und dem Geschehen in ihm eins werden. Dies führt, wie Zogmayer an anderer Stelle bemerkt, dazu, dass „wir ins Eine, Ganze, Heile oder Heilige geführt werden.“[9] Ein Künstler, der mit seinem Schaffen dieses Ganze meint, wird schwerlich ein reicheres Betätigungsfeld finden als die Gestaltung liturgischer Räume.

 

 

Postskriptum

 

Meine Vertiefung in den Spruch, seine künstlerischen Realisierungen und ihre Deutungen hat mich eines gelehrt: Wenn von Kunst im Sinne Zogmayers die Rede ist, werden ganz unterschiedliche Geschichten von Menschen und Materien, Gott und der Welt lebendig, heitere und traurige, nüchtern untersuchende, fromme und schelmische. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie auf stets neuen und anderen Wegen in die offene Weite führen, wach machen und das Ganze vergegenwärtigen, in dessen Geräumigkeit die Kunst und wir mit ihr erst zu denen werden, die wir sein können.

 

 

 

 

Wien, 16.12.2020

[1] Markus Krauth (Hg.), Voll Gott. Maria Geburt Aschaffenburg. Regensburg 2019, 64.

[2] Ausführlicheres dazu in Karl Baier, Erste Worte. Gedanken zu Leo Zogmayers Wortbildern. In: Reinhold Esterbauer, Martin Ross (Hrsg.), Den Menschen im Blick. Phänomenologische Zugänge. Würzburg 2012, 549-571.

 

[3] Michael Huber, Jürgen Zahrl: Die neue Landesgalerie NÖ: Der erste Rundgang durch den schiefen Turm von Krems. In: Kurier (26.02.2019). Abgerufen am 27.09.2020 von https://kurier.at/chronik/oesterreich/die-neue-landesgalerie-noe-der-erste-rundgang-durch-den-schiefen-turm-von-krems/400417907. Ähnlich auch Günther Oberhollenzer, der Kurator der Landesgalerie, in einem Interview mit Silvie Aigner für das Kunstmagazin Parnass, das am 18.02.2019 online ging. Er bezieht Zogmayers Intervention ebenfalls auf den Museumsbau und seinen Inhalt und darüber hinaus auf die Vorarbeiten zur Eröffnung der Landesgalerie: „Es ist dies ein schöner Leitspruch, auch für die weiteren inhaltlichen wie organisatorischen Vorbereitungen.“

Abgerufen am 29.09.2019 von https://www.parnass.at/news/interview-mit-guenther-oberhollenzer.

[4] Gehen wir auf’s Ganze. In: morgen. Ausgabe 263, Einleitung zu Special: Landesgalerie. Abgerufen am 27.09.2020 von http://www.morgen.at/2019-02-gemeinschaft/special-landesgalerie.

[5] E-Mail von Bischof Bernhard Glettler an den Verfasser (07.05.2020).

[6] Eine Einführung in die Transzendentalienlehre und ihre Geschichte gibt Augustinus Wucherer-Huldenfeld, Zur Bedeutung des Lehrstücks von den Transzendentalien in der abendländischen Philosophie im Blick auf das andere Ufer frühen indischen Daseinsverständnisses, in: ders., Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein. Band 2, Wien 1997, 347-378.

[7] Markus Krauth (Hg.), Voll Gott, 64.

[8] Ebd.

[9] Leo Zogmayer, Ästhetik der Reduktion in Kunst und Spiritualität. Vortrag gehalten beim Kulturtag im Rahmen der Herbsttagung der österreichischen Orden am 27. November 2019 in Wien. Abgerufen am 07.10.2020 von https://www.ordensgemeinschaften.at/kultur/miko-beitragsliste/1504-aesthetik-der-reduktion-in-kunst-und-spiritualitaet.

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