„Schön“ als das Größere, Weitere …

Gespräch Karl Baier und Leo Zogmayer

 

 

K.B.: Das „Jetzt“ ist ein zentrales Thema deiner Kunst und deines Konzepts von Schönheit. Ich stelle mir oft die Frage, was es heißt, in der Gegenwart zu leben. Wie verhält sich das Gegenwärtigsein zu Vergangenheit und Zukunft? Wird nicht der Klang der Welt, wenn man das Jetzt vom Gewesenen und Kommenden abschneidet, zu einem sinnlosen Vorbeirauschen punktueller Momente? Das kann nicht das Leben im Hier und Jetzt sein, das im Zen und in anderen spirituellen Richtungen geübt wird. Man denke nur, was aus Leuten wird, denen durch Gedächtnisschwund die Vergangenheit oder durch Verzweiflung die Zukunft abhanden kommt. Sie sind auch nicht mehr gegenwartsfähig. Gehören also am Ende Vergangenheit und Zukunft zur Gegenwart und zum Ereignis des Schönen?

L.Z.: Ja, sie gehören dazu, wie alles dazugehört, was sich in unserem Gehirn verfängt: Atem, Klänge, Schmerz, die ganze Welt. Und auch Erinnerung und Aussicht. Fatalerweise reduzieren wir aber Gegenwart auf eine Marke, die wir auf einem chronozeitlichen Lineal eintragen, als wäre dieses Instrument schon „vor“ der Gegenwart da gewesen. Doch bedarf es Gegenwart, dass ein Modell, wie das einer raumzeitlichen Achse, überhaupt in die Welt kommen kann. Und oft genug beschreiben wir das Leben in der Gegenwart ja auch ganz anders, z.B. in sozialen Kategorien oder in ästhetischen …

Übrigens finde ich Gegenwart mit dem Ausdruck „sinnloses Vorbei-rauschen“, den du vorhin verwendet hast,  treffend charakterisiert. Trotz der Nähe des Rauschens zum Rausch erscheint es mir nüchterner und gesünder als die verbreitete Übung rasender Subjekte, die einem Lebenssinn nachjagen. Und sinn-los muss auch gar nichts Negatives bedeuten. Es könnte damit ein loser Sinn gemeint sein, der immer gegenwärtig ist, dessen Sichtbarwerden aber von unserem Vermögen zu schauen abhängt. Und das Rauschen wäre die Musik dazu.

Um auf dein Beispiel zurückzukommen: Gedächtnisschwund, also zu wenig Gedächtnis, wirkt gewiss meist lähmend auf die Betroffenen. Doch gibt es auch das Krankheitsbild, das sich durch zu viel Gedächtnis auszeichnet. Wobei ich natürlich nicht von überdurchschnittlicher Merkfähigkeit spreche. Sondern von einer abartigen Überbewertung und Aufladung des Speicherinhalts. Das wäre unsere Situation. Das eigentliche Leben, das jetzt ist, wird zwischen den Zeitblöcken, zwischen erinnerten Vergangenheiten und imaginierten Zukünften, aufgerieben. Der Mensch lebt dann nicht mehr bewusst, nicht mehr wirklich. Irgendwann kommt es zur Entzündung dieser Depots. Der Funke springt über in die Außenwelt. Plötzlich brennt es wirklich. So schafft eine Ideologie, welche Vergangenes so hoch gewichtet, auch Arbeitsplätze: beim Militär oder in der Psychiatrie zum Beispiel … Glaubst du nicht auch, dass es im vorhin beschriebenen Fluss loser Sinnfiguren wohl kaum zu einem Krieg kommen könnte? Entstehen Kriege nicht immer durch die Entzündung gehorteter Bilder?

K.B.: Mhm, Bilder … Sagen wir Modelle davon, wie die Wirklichkeit sein sollte, die entzündet werden von einem schlagkräftigen Willen. Beides, Modell und Durchsetzungswille, manipulieren die Gegenwart auf eine potentiell gewaltsame Weise. Der Zugang zum Gegenwärtigsein basiert meiner Meinung nach nicht auf solchem Verhalten, sondern auf dem Freilassen der Zeit, das gelöste Sinnfiguren erscheinen lässt.

L.Z.: Die Frage ist nur, wie welche Zeit freigelassen wird. Zeit, wie sie heute in unserer Kultur wirkt, scheint mir wie eine Art Genmanipulation zu funktionieren. Schon die alten Griechen waren darin Meister. Wenn ihnen auch das Gegengift Kairos vielleicht noch vertrauter war. Das Juden-Christentum hat sich jedenfalls eingeklinkt und die Zeit-Bombe weiter forciert. Sie wirkt, als Stück Natur getarnt, quasi unterirdisch, unsichtbar. Diesen Umstand nutzt der Chronos von Anfang an. In seiner Garage in den olympischen Hinterhöfen bastelte er bereits an der Weltherrschaft. Möglicherweise geht uns das erst auf, wenn unsere griechische Einbildungswelt auf das klarsichtigere asiatische Denken aufläuft. Das chinesische Denken unterwirft sich nicht so leicht der Zeit-Genossenschaft. Das bildet sich schon in der Sprache ab, in der zum Beispiel Verben nicht konjugiert werden. In der chinesischen Sprache und das heißt in den chinesischen Subjekten tickt keine Zeitmaschine. – Vielleicht wäre das lose Rauschen von vorhin kein schlechter Soundtrack zu den blass faden chinesischen Landschaftsmalereien? Bezeichnend, dass das Lang-weilige, die Fadheit, zu den angesehensten ästhetischen Kategorien der chinesischen Künste gehört. Fade, nicht illusionistisch oder expressiv angelegte Kunst nimmt reale Kraft und Lebendigkeit nicht vorweg. Sie ist jener Leere verwandt, die der Fülle des Wirklichen ihren Auftritt ermöglichen soll.

K.B.: Du hast einmal gesagt, dass es in deiner Kunst nicht um das Einrahmen, sondern um das Ausrahmen der Wirklichkeit geht. Von welchen Rahmen soll die Wirklichkeit befreit werden?

L.Z.: Von allen Rahmungen, Modellen, Erklärungen. Von den Definitionen, den Rahmen, die uns begrenzen. Wir brauchen einen ganz neuen Kulturbegriff. Er sollte der Kunst unterstellt sein. Paradiese ohne Einzäunung. Offene Gärten für Kunst, die das reale Leben ent–fernt, also Ferne abbaut, uns der Wirklichkeit näher bringt.

Leider unterwerfen sich viele Künstler den Regieanweisungen einer weitgehend kanonisierten Kultur. Die zeitgenössische Kunst fordert stets Freiheit, ist jedoch oft selber unfrei. Ein Gutteil der Kunst und Kunsttheorie gehorcht z.B. nach wie vor dem europäischen Leidensparadigma, einer säkularisierten Fortsetzung religiöser Passionsphantasien. Ein masochistisches Element der christlichen Realgeschichte beherrscht bis heute manche Sparten der Kunst. Wenn wir jetzt im Vorfeld der 12. Documenta diskutieren, ob die Moderne unsere Antike sei, wäre erst einmal zu fragen, wieweit wir überhaupt schon in der Moderne angekommen sind. Die europäische „Avantgarde“ ist ja über ihre militaristische Terminologie in eine absurde Selbstbestimmung geraten.

K.B.: Was meinst du mit Selbstbestimmung? Das heroisch-absurde Selbstbild, immer an vorderster Front kämpfen zu müssen?

L.Z.: Genau. Der Kunstbetrieb ist sehr kompetitiv geworden. Was Kunst eigentlich ausmacht, davon ist nur selten die Rede. Konkurrenzkämpfe, Innovationshektik, überzogene Kontextthematisierungen überwuchern, substituieren beinahe den eigentlichen Korpus der Kunst.

K.B.: Du scheinst davon auszugehen, dass eine Kunst, die nicht in diesen Oberflächlichkeiten verstrickt ist, etwas zur Befreiung des Menschen beitragen kann. Ist das nicht ein zu hoch gesteckter Anspruch?

L.Z.: Kunst vermag doch sonst nichts! Das Gemachte, die Täuschung soll verblassen. Ende. Nichts ist wichtig. Kunst ist schwerelos. Egal in welche Gewichtungen sie einbricht. Alles dreht sich und feiert leise. Formen, Namen werden durchsichtig. Kunst muss Einbildungen, überhaupt alles Gebildete auslöschen. Die Welt verstummt. Und es wird sichtbar, was wir begreifen wollten. Wenn der Raum der Ansprachen und Ansprüche sich ins Offene entgrenzt. Das ist Kunst. Frei.

K.B.: Hat das Offene, das du gerade angesprochen hast, auch etwas mit sozialer und politischer Freiheit zu tun, oder sind diese Bereiche für die heutige Kunst irrelevant geworden?

L.Z.: Ein beträchtlicher Teil der zeitgenössischen Kunst versucht ja bekanntlich, sich über politische Themen zu legitimieren. Soziale und politische Freiheiten sind aber Kompromissformeln, strategische Figuren, die innerhalb ihrer Felder wichtig, vermutlich sogar unverzichtbar sind. Sie allein machen jedoch nicht frei. Lass uns zwischen „die Freiheit“ und „frei“ unterscheiden. Freiheit definieren wir. Ist demnach begrenzt. Da gilt sie – und dort endet sie schon wieder. Sie hat mit Zielen, Wünschen, Forderungen zu tun. Frei hingegen will nichts. Frei hat auch nichts und hat demnach auch nichts zu verlieren. Explizit politische, engagierte Kunst dient immer nur bestimmten Aspekten der polis, folgt Ideologien, Konventionen, bedient Programme. Das macht sie oft blind für ihr eigentliches Potential. Kunst sollte es um nichts anderes gehen, als dass gesehen wird, was ist. Kunst ist Apokalypse: Enthüllung. Darin liegt mehr – auch mehr politische – Sprengkraft als in jeder geschichtlichen Revolution.

K.B.: Wenn alles schön ist, wie steht es dann mit dem Hässlichen? Ist es in unserer unvollkommenen Welt nicht ebenso allgegenwärtig?

L.Z.: Wenn alles schön ist, dann ist auch das Hässliche schön. Ich sehe da keinen Widerspruch. Wie sich der ganze Tag teilt – in Tag und Nacht, so betrifft schön, dieser Mehrwert alles Sichtbaren, Phänomene, die wir als schön und solche, die wir als unschön bezeichnen. Dieser Mehrwert, dieser Überschuss ereignet sich in allem, was wir sehen. Es ist immer mehr (da), als wir perzeptiv und kognitiv registrieren können. Geht uns das auf, sagen wir ’schön‘.

Mit Indifferenz hat das übrigens nichts zu tun – wenn wir auch das Unschöne als Teil, als Spielart eines größeren Schönen sehen. Jede Form künstlerischer Praxis spielt sich zwischen diesen Polen ab. Das macht die Dynamik kreativer Prozesse erst aus.

K.B.: Du sprichst meist vom sichtbaren Schönen und vom Schauen, durch das man es wahrnimmt. Vermutlich gibt es aber auch das hörbare, tastbare, schmeckbare Schöne etc. Wie verhält sich das Schöne zu den verschiedenen Sinnen?

L.Z.: Sichtbar – bare Sicht – öffnet auf den erwähnten Überschuss hin. Dieses Offensein betrifft alle Sinne und geht gleichzeitig über sie hinaus. Den blinden Sehern des Altertums war das Schöne keineswegs fremd.

Unser Sensorium vermag das Schöne nicht zu fassen. Das deutsche Wort „Wahrnehmung“ verführt uns zu glauben, dass wir die Wahrheit nehmen könnten. „Schön“ ist kein etwas. Auch keine Eigenschaft. Es lässt sich ja nicht einmal sagen, was es nicht ist …

K.B.: Wahrzunehmen, ohne die Wahrheit zu „nehmen“, damit propagierst du auch ein Schauen ohne Bewerten. Aber alltäglich stehen wir permanent vor der Notwendigkeit, Dinge zu beurteilen, Entscheidungen zu treffen, das heißt eines dem anderen vorzuziehen, etwas wichtiger zu nehmen als anderes etc. Wie verhält sich das urteilslose Schauen dazu?

L.Z.: Ich sehe nicht, dass wir in den Situationen, die du anführst, „werten“ müssen. Die Attitüde vom permanenten Wertungs- und Entscheidungsstress ist Teil unserer Selbstinszenierung, die uns viel kostet und hauptsächlich Enttäuschung einbringt. Wenn ich sehe, dass ein Ding, eine Bewegung etc. einer Situation adäquat ist, die andere Möglichkeit aber nicht, hab ich ja nicht gewertet, zumindest nicht in einem urteilenden Sinn. Sondern bloß geschaut. Kann ich das geeignete Tool, die bessere Route etc. im Moment nicht erkennen, nützen mir auch Wertung und Urteil nichts. Ich gehe einen der Wege, bis sich zeigt, ob er ans Ziel führt. Eventuell kommt heraus, dass das vorgefasste Ziel schon wertlos war.

K.B.: Wenn unser Sensorium das Schöne nicht zu fassen vermag, ist es dann etwas Übersinnliches?

L.Z.: Ja, ich hab vorhin von der Unfassbarkeit des Schönen gesprochen. Doch, wozu wäre denn das „Fassen“ des Schönen überhaupt gut? Ich frage mich, ob uns vielleicht die Asiaten noch einmal zeigen werden, wie wir das zwänglerische Fassen-, Tragen-, Besitzen-müssen ablegen könnten. Die Schwere, die wir uns da antun, sollte doch allmählich als bloß oberflächlich säkularisiertes Opfergehabe durchschaut werden. Sogar das Schöne will der Westmensch besitzen, auf sich nehmen. Muß alles in Arbeit ausarten? Arbeiten heißt ja – präzise übersetzt – sich peinigen …

Zu deiner Frage, ob das Schöne etwas Übersinnliches sei? Ich fang mit dem Wort nicht viel an. Natürlich ist das Schöne einerseits nicht vom Sinnlichen zu trennen. Schön kommt ja auch sprachgeschichtlich von Schauen. Doch gleichzeitig geht es über das dem Gesichtssinn Zugängliche hinaus. Dieses Schauen wird von unserer Kultur immer mehr abgewürgt. Schauen wird durch wissen wollen ersetzt. Wissen hat ein stark possessives Moment an sich. Das engt unsere Weltsicht enorm ein. Was der Zeitgenosse nicht besitzen kann, das interessiert ihn offensichtlich nicht. Dabei vermögen wir unendlich mehr zu schauen, als wir wissen, abspeichern, eben besitzen können. Das geht von Momenten des Ahnens bis zu tiefen Gewissheiten, die alle nicht auf wahrnehmbaren, kognitiv verifizierbaren Daten beruhen …

K.B.: Das Sein ist vermutlich für die philosophische Gegenwartskultur genauso ein rotes Tuch wie der Begriff der Schönheit für die Kunstkritik. Vielleicht kann man beide nur gemeinsam rehabilitieren. Kann man von Schönheit überhaupt reden, ohne dabei Sein zu denken? Ens et pulchrum convertuntur, hieß es im Mittelalter, das Seiende und das Schöne sind austauschbar. Möglicherweise ist unser Kopf von Vorurteilen verhext, die „Sein“ mit einem nichtssagend abstrakten Konzept, oder mit Statik, Unveränderlichkeit bzw. einer totalitären, unterschiedslosen Einheit verbinden. Das wäre aber bloß eine schlechte Ontologie, gegen die das Sein ebenso immun ist wie die Schönheit gegen eine Kunstphilosophie, die sich von ihrem Erscheinen abwendet.

L.Z.: Ich kann nicht beurteilen, ob die intellektuellen Zeitgenossen gegen die Ontologie sind. Kunst hat jedenfalls radikal einzulösen, was auch für die Philosophie gilt: etwa, dass wahre Philosophie über die Philosophie spotte oder dass sie zu dichten sei … Kunst hat all dem zu widersagen, was von ihr erwartet wird. Lass mich so ansetzen: Wenn wir den Mund aufmachen oder eine Zeile schreiben, ein Bildformat wählen – schon schlägt die Sprachfalle, die übermächtige Konvention, zu. Manche Autoren wissen und thematisieren das. Um dann in aller Regel dennoch der Verführungskraft von Mustern, Regelwerken, Weltmodellen zu erliegen. Es ist nicht leicht, den Menüs des 2nd Life zu entkommen. Kunst öffnet  – zumindest potentiell – ein Windowing ins 1st Life. Kunst hat generell nichts mit Mimesis zu tun! Kunst brennt, verbrennt, verweht. Noch während wir formulieren, schreiben, lesen, schauen.

Das Thema der Kunst heißt ‚ist‘. Der Begriff ‚Sein‘ ist schon ein Rahmen, der was ist auf ein Gedankenformat zusammenquetscht.

K.B.: Wenn du den Fokus vom Sein zum „ist“ verlegst, dann kommt meiner Meinung nach damit das Sein als gegenwärtiges Geschehen besser zu Wort. Wäre nicht das Sein ebenso zeitlich zu denken wie das Schöne?

L.Z.: Das müsste eine andere Zeit sein. Nicht die westliche Zeitmacht. Nur wenn Zeit schön, wenn schön Zeit wäre, würde ich dem zustimmen. Schön ist nicht messbar. Schön ist unbegründet. Schön ist das größere Hemd … Unsere Zeit, die Stresszeit, die uns davonläuft, krank macht usw. ist ein schlecht geschriebenes Programm. Und trotzdem noch immer Marktführer.

K.B.: Wenn du vom Schönen sprichst, habe ich oft den Eindruck, dass es für dich wie ein Name Gottes ist, so etwas wie die Weise seiner unmittelbaren Gegenwart in der Welt. Gibt es nicht auch eine sozusagen rein irdische Schönheit, die nicht gleich an Gott denken läßt?

L.Z.: Gewiss. Doch schön unterscheidet gar nicht zwischen einer sakralen und einer profanen Abteilung. Ein muslimischer Autor hat jüngst ein Buch mit dem Titel „Gott ist schön“ geschrieben. Es liegt nahe, die beiden Wörter als Synonyme zu lesen. Doch ich sehe schön als das Größere, Weitere. Das Wort Gott ist ja auf Grund der europäischen Religionsgeschichte, einer Geschichte des Theismus, eigentlich unbrauchbar gemacht worden. Vielleicht meinst du aber eine elementarere, offenere Bestimmung des Göttlichen? JAHWE, ich bin da. Alles spricht. Das wäre das sichtbare Unsichtbare.

Wien, März 2007

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