Sicht : bar

Ästhetik und Spiritualität

Leo Zogmayer

 

 

 

Die Welt ist nicht das Problem. Weltbilder, Weltdeutungen, Modelle und andere Parallelaktionen, die wir selber generieren, können uns zum Verhängnis werden. Wenn wir Wirklichkeit mit Bildern, die wir (uns von ihr) machen, überlagern. Wenn das Bild mächtiger wird als das Vorbild. Wenn wir Bilder für das Wirkliche halten, Welt und Bild miteinander verwechseln. Religionen, Weisheitslehren warnen davor. Im Abendland heißt das: Du sollst dir kein Bildnis machen! Im fernen Osten: Das große Bild (die Wirklichkeit) hat keine Form.

Künstler und Priester entwickeln und pflegen Strategien und Praxen, die den Menschen vor der Machtübernahme durch Bilderfindungen, Modelle, Moden, Täuschungen bewahren sollen. Es geht um die Rückkehr zu dem was ist. Um Relativierung und Entmachtung obsoleter Bilder. Zumindest im Westen führte das zum permanenten, nicht enden wollenden Bildertausch: Jedes neue Bild zerstört zuallererst ein altes Bild.

Kunst und Religion dienen nicht der Überformung des Alltags, nicht der Verzauberung des Gewöhnlichen. Sind nicht bloß Luxus, Draufgabe, Ablenkung, Kompensation. In Kunst und Religion geht es vielmehr um Wiedergewinnung von Wirklichkeit. Wahrheit. Davon spricht Ludwig Wittgenstein, wenn er den Künstler als Realisten bezeichnet, der „uns nicht in einen schönen Traum einwiegen will, sondern die Welt dadurch erlöst, dass er sie sieht, wie sie ist”. Schauen steht somit an vorderster Stelle. Die Worte Theater, Theorie, Theos gehen auf das griechische theorein bzw. theaomai – beobachten, betrachten, (an)schauen – zurück. In Kunst und Religion meint Schau ein Öffnen auf das Inkommensurable. Grenzen überschreiten, die wir uns per Kultur, Tradition, Konvention gesetzt haben. Über das rational, kognitiv Einholbare, das Sagbare hinausgehen.

Kunst und Religion sind sprachlos. Ihre entscheidenden Einsichten sind nicht sagbar, sind nicht mitteilbar, wie wir üblicherweise Daten und Fakten, sogenannte Tatsachen, kommunizieren. Kunst und Religion sind dort wirksam, wo es uns die Sprache verschlägt. Markieren gewissermaßen Orte des Sprachversagens.

Kunst und Religion sind heimatlos. Ihre Aufenthaltsorte sind in höchstem Maße heterotop. „Einen Blitz bewohnen“ heißt das in einem Gedicht von René Char.

Kunst und Religion sind bildlos. Von der Bildlosigkeit wahrer Bilder war schon die Rede. Um zu schauen, müssen wir sichtlos werden. Angelernte Sicht-weisen aufgeben, verlernen.

Kunst und Religion sind zeitlos. Daran sind sie zu messen. Wenn es auch kein geeichtes Maß für diese Prüfung gibt.

 

(Kunst und Religion)

Sehen wir einmal von Kunstbetrieb und Religionsbetrieb ab, die ihre Inhalte und eigentlichen Botschaften oft eher konterkarieren, mehr verraten als vertreten, wird spürbar, dass Kunst und Religion, Schönheit und Spiritualität an den selben Grund rühren. Kunst und Religion folgen in sehr ähnlicher Weise einem elementaren menschlichen Verlangen: Welt und Leben im Original zu sehen, nicht als mimetische Kopie, nicht als Second Life Simulation, sondern wirklich, nackt. Der Enthüllung durch Kunst und Kult bedarf es aber nicht, weil die Welt sich etwa selber verbergen würde – die Welt ist nicht das Problem – sondern weil die Kultur ihre Weltverbesserungsmodelle über den Rohstoff der Welt legt, bis dieser quasi unsichtbar wird. Modellorientierte Kulturen wie die unsere sehen nämlich nicht den Punkt, wo die Weltverbesserung ins Gegenteil umschlägt. Darum bedarf es Kunst und Religion. Um wuchernde Weltbilder, die uns einengen und quasi von der Wirklichkeit abschneiden, zu lockern, zu entmachten. Dass das Maschenwerk der Gedanken und Zeichen durchsichtig und von Zeit zu Zeit auch ganz aufgetrennt wird. Kunst als Öffnung, als Ent-dichtung, als heilvolle Bildentmachtung.

 

(Sichtbar / bare Sicht)

Das Wort schön kommt von schauen und lässt sich demnach schlüssig mit „sichtbar“ übersetzen. Damit meine ich nicht profane Sichtbarkeit im Sinne einer bloß rezeptiven Verortung von Daten und Fakten. Sichtbar hat hier mit barer Sicht zu tun. – Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es das gar nicht, weil jede Weise des Sehens irgendwie gelernt wurde. Als etwas Isolierbares, das sich im Labor untersuchen lässt, gibt es bares Schauen gewiss nicht. Gleichwohl ereignet es sich. Und ich bin überzeugt, dass das Schöne, das dabei aufblitzt, dieser schwer fassbare Mehrwert der wahrnehmbaren Wirklichkeit, das Grundmotiv aller künstlerischen und vermutlich auch wissenschaftlichen Kreativität ist. Ich möchte sogar so weit gehen, dass ich im so empfundenen Schönen das eigentliche Geheimnis für erfülltes Leben auch im spirituellen Sinne sehe. Dabei spreche ich von Wahrnehmung (aísthēsis), die absichtslos, unvoreingenommen, offen, quasi unschuldig ist. Die sich etwas vom kindlichen Schauen bewahrt hat. Bares Schauen meint eine rezeptive Haltung/Bewegung zwischen Aktivität und Passivität, eine Art entspannte Wachheit. Es setzt zudem voraus, dass das wahrnehmende Subjekt auch zum Schweigen fähig ist und das Wahrnehmungsgeschehen nicht andauernd mit subjektiven Wertungen überlagert. Es ist ein überwiegend kontemplatives Wahrnehmen, das uns offenbaren kann, dass Wirklichkeit reicher ist als alle Erscheinungen, die wir in der Sprache begrifflichen Erkennens fixieren können. Um diesen anderen Reichtum geht es, wenn wir vom Schönen, dem trotz aller Brechungen der Moderne noch immer zentralen Topos der Kunst, reden.

 

(Jetzt-Zeit)

Bare Sicht bedeutet jetzt schauen. Sodass wir das Potential der jeweiligen Situation voll und ganz wahrnehmen und nutzen können. Bare Sicht ist nur jetzt möglich. Jetzt bedeutet zwar gleichermaßen immer (von mhd. iezuo: immerzu), doch immer in der Haltung von Gegenwärtigkeit. Bare Sicht, achtsame Präsenz im Jetzt fällt dem Menschen nicht leicht. Nicht weil das an sich schwierig wäre, sondern weil wir in die chronologischen Zeitmodelle dermaßen eingeübt, auf sie hin so sehr konditioniert sind. Werdet wie die Kinder! Kinder leben im Jetzt, bis ihnen dieses kostbare Gut – mittels Bildung – ausgetrieben wird. Mittels Bildung eines Weltmodells, in dem kognitives Wissen dominiert, das subtile natürliche Vermögen wie offenes Schauen und achtsames Gegenwärtigsein massiv überlagert und verdrängt. Zeit, wie sie heute auf uns wirkt, scheint mir wie eine Art Genmanipulation zu funktionieren. Schon die alten Griechen waren darin Meister. Wenn ihnen auch noch das Gegengift des Kairos vertrauter war. Das christliche Abendland hat sich eingeklinkt und die Zeit-Bombe weiter forciert. Sie wirkt, als Stück Natur getarnt, quasi unterirdisch, beinahe unsichtbar. Diese Taktik nutzt der Chronos von Anfang an. In seiner Garage in den olympischen Hinterhöfen bastelte er bereits an der Weltherrschaft.

Diese unsere Zeit, ich meine die Stresszeit, die uns davonläuft, krank macht usw. ist eigentlich ein schlecht geschriebenes Programm. Trotzdem ist es noch immer Marktführer.
Die Brisanz dieser Übermacht macht verständlich, dass Gegenwart und Gegenwärtigkeit Schlüsselthemen in Ästhetik und Spiritualität sind.

 

(Ars celebrandi)

Als der Komponist John Cage die Eingangstür zu einem Pariser Restaurant öffnete, fragte ihn ein Freund, worin der Unterschied zwischen gewöhnlichem Eintreten und dem Eintreten als künstlerischer Aktion liege. Die spontane Antwort war: „If you celebrate it, it’s art: if you don’t, it isn’t.“
Cage meinte mit „Feiern“ wohl ein achtsames, das ganze Potential des gegebenen Augenblicks einbeziehendes Wahrnehmen und Agieren. Die geschilderte Situation lässt sich auf jede Tätigkeit, auf beinahe jeden Moment des Tages übertragen. Die minimale Hervorhebung und diskrete Ritualisierung eines alltäglichen, profanen Geschehens kann dieses den Konditionierungen und Abstumpfungen der Alltagsroutine entziehen und in Kunst, in erlebte Wirklichkeit, verwandeln. In der Kunst geht es demnach nicht in erster Linie darum Außerordentliches zu kreieren, vielmehr um außerordentliches Wahrnehmen, um ein Wahrnehmen außerhalb vermeintlich zwingender Konventionen. So kann uns Kunst in eine vitalere Welt, sozusagen in die wirklichere Wirklichkeit versetzen. Aus diesem Kunstbegriff ist niemand ausgeschlossen. Er lässt die Grenzen zwischen Kunstproduzenten, den kreativen Akteuren, und den mitfeiernden Rezipienten, aber auch zwischen Kunst und Religion verschwimmen.

 

(Kunst: Reduktion, Ent-täuschung)

Wie für ein gutes Fasten gilt auch für Kunst und Kult: weniger von etwas, mehr von nichts. Reduktion. Reduktion im Sinne von Ent-täuschung. Bildeindämmung. Zugunsten von Intensivierung und Sensibilisierung des Hörens und Schauens. Auch über das sensorische Wahrnehmen hinaus. Kunst und Religion suchen das Bild vor den (gemachten) Bildern. Entlarven „Tradition“ als kulturelle Strategie, hinter der sich häufig opportunistische Anpassung, Bequemlichkeit und Faulheit verbergen. Gustav Maler: “Was ihr Tradition nennt, ist nichts anderes als Eure Bequemlichkeit und Schlamperei!“ Kunst und Künstler, Religionen und deren Akteure geraten so naturgemäß in Konflikt mit der Kultur, mit “herrschenden Verhältnissen”, mit dem Establishment. Dass verfasste Religionen und deren Institutionen wie auch der kommerzialisierte Kunstbetrieb bisweilen allzu leicht, allzu gern den Verlockungen von Macht, Ansehen und Geld erliegen, wissen wir.

… … …

Das große Bild ent-fernt Gott. Nimmt ihm, dem wirklichen Leben, dem wir uns gar nicht entziehen können, die angedichtete Ferne. Das große Bild heißt uns schweigen, dass wir nicht übertönen, was wir hören sollen. Wie im Gebet. Das eine Hörübung sein soll. Es gelingt nur, wenn zwischen uns und der Wahrheit, dem Logos, nichts als Liebe ist. Und Liebe ist: nichts. Wenn nichts zwischen uns steht, uns nichts trennt, wirkt jene erquickende Bindung, die uns frei lässt. Wörtlich kommt ja Beten vermutlich von binden, winden, flechten. Wir sollen erkennen, dass wir (schon) verbunden sind.

Und der Kultraum? Der architektonisch und künstlerisch gestaltete Ort der Liturgie ist ja eine Art andauernder Rede. Misslingt diese, erzählt der Raum, im Unterschied zur am nächsten Sonntag korrigierbaren Wortpredigt, über Jahrzehnte und länger den Besuchern das Falsche.
Der Raum der Kirche soll still und leer sein.

Dass die Fülle auftreten kann.

 

 

Vortrag zum Aschermittwoch der Künstler in Maria Regina Martyrum, Berlin, am 18.2.2015

 

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