Über Bild und Bildung in Kunst und Liturgie

Ein Erfahrungsbericht

Leo Zogmayer

 

 

Ein paar Sätze als Vorspann: Das deutsche Adjektiv schön kommt vom Verb schauen – und lässt sich also schlüssig mit „sichtbar“ übersetzen. Damit meine ich natürlich nicht profane Sichtbarkeit im Sinne einer bloß rezeptiven Verortung von Fakten. Sichtbar hat hier vielmehr mit barer Sicht zu tun.

Bare oder nackte Sicht meint ein wertungsfreies kontemplatives Wahrnehmen, das eine Wirklichkeit offenbart, die reicher ist als alle Erscheinungen, die wir in der Sprache begrifflichen Erkennens fixieren können. Um diesen anderen Reichtum geht es, wenn wir vom Schönen reden, dem trotz aller Brechungen der Moderne noch immer zentralen Topos der Kunst, wie ich meine, auch der Religion, insbesondere der Liturgie.

Paradoxerweise geht es also in der Kunst wie in ernst gemeinter religio nicht nur darum, großartige Bilder zu kreieren und zu etablieren, sondern mehr noch um die Entmachtung von Bildern.  Dazu bedarf es ästhetischer Innovationen – doch nicht als Selbstzweck. Sondern dass die Bilderwelten in Bewegung – und Kult und Glauben lebendig bleiben.

Dieser kleine Vorspann war wichtig zum Verständnis der konkreten Erfahrungsberichte.

 

Wie beginnt denn heutzutage ein „Kirchenprojekt“ für Künstler?

In der Regel so, dass ein Pfarrer, ein Bischof, ein Abt, manchmal ein staatlicher oder kommunaler Träger einlädt, einen Entwurf zu erstellen oder an einem Wettbewerb teilzunehmen. Sehr oft heißt die Aufgabe „Altarraumgestaltung“. Ich mag diese Bezeichnung nicht, weil sie den Blick auf das raumliturgische Ganze verstellt. – Dann heißt es also, wir brauchen einen Altar, einen Ambo, Sedilien. Möglicherweise neue Fenster. Wenn noch Geld da ist, wünscht man sich vielleicht einen Kreuzweg. Ganz selten wurde ich eingeladen, den liturgischen Raum als Ganzes in den Blick zu nehmen – oder gefragt, mit welchen künstlerischen Interventionen sich die konkrete Kirche ästhetisch und raumliturgisch optimieren ließe. Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Ein Gemeindemitglied formulierte einmal in der ersten Projektbesprechung für eine Kirchenneugestaltung spontan ein „theologisches Programm“: Ex 3, 5 / Zieh deine Schuhe aus, du betrittst heiligen Boden! Das ist natürlich ein wunderbarer Ansatz. Schuhe ausziehen, das bedeutet, raus aus der alten, toten Haut. Raus aus dem Bild der chronologischen Zeit, durchatmen in der wirklichen Zeit, in der Zeit, die bleibt, wie Paulus es ausdrückt, ankommen im JETZT. Sich in einem kontemplativen Akt der Jetztzeit zu öffnen, ist der beste Einstieg in den Raum des Kults, der ja ein Raum der Präsenz sein soll. Dazu eine kleine Story: Als der Komponist John Cage einmal die Eingangstür zu einem Restaurant öffnete, fragte ihn ein Freund, worin der Unterschied zwischen gewöhnlichem Eintreten und dem Eintreten als künstlerischer Aktion liege. Die spontane Antwort war: „If you celebrate it, it’s art: if you don’t, it isn’t.“ Cage meinte mit celebrate, feiernwohl ein achtsames, das ganze Potential des gegebenen Augenblicks einbeziehendes Wahrnehmen und Agieren. Wodurch sich ein Stück Alltag in Kunst, in erlebte Wirklichkeit, ja in ein spirituelles Geschehen verwandelt. Das kleine Ritual beim Übertreten der Restaurantschwelle setzt wie jede kontemplative Übung Bilder, Vorstellungen, Wertungen und Deutungen, mit denen wir Leben und Welt zu überlagern gewohnt sind, für kurze Zeit außer Kraft. Wir haben unseren äußeren und inneren Aktivismus reduziert, haben ein wenig losgelassen, etwas abgegeben, vielleicht ein wenig Kontrolle, haben uns auf etwas wie eine kleine Armut eingelassen und erleben uns im selben Moment – bereichert. Wir haben unseren überbordenden Aktivismus reduziert: Kunst bedeutet für mich immer in erster Linie Reduktion! Das gilt aus meiner Sicht genauso für Religion und Spiritualität und ist im Kultunverzichtbar.

Die geschilderte John Cage-Szene lässt sich auf beinahe jede Tätigkeit, auf viele Situationen eines Tages übertragen, natürlich auch oder gerade auf den Augenblick, da wir eine Kirche betreten.

Es geht hier um kontemplative Sammlung, die von Kunst und Architektur durch eine entsprechende Gestaltung des Kirchengebäudes und durch impulsgebende Zeichen zu begleiten und zu unterstützen ist.

Damit wäre das erste von zwei Themen, die mir in unserem Kontext relevant erscheinen, skizziert: das Kontemplative, die innere Feierdes Einzelnen.

 

Der zweite große Topos betrifft die Feier der Gemeinde, die eigentliche Liturgie, die ich gerne auch als Kunst der Begegnung bezeichne. Diese Liturgie beginnt bereits am Planungstisch: Wenn die Begegnung dort nicht gelingt, wird kaum ein guter sakraler Raum entstehen können.

 

In beiden Fällen, bei der persönlichen Sammlung wie im Akt der mitmenschlichen Begegnung, kommt es zur Unterbrechung jener Gedankenläufe, die uns gemeinhin der lebendigen Wirklichkeit entziehen. Wo zwei oder drei im Namen der Liebe zusammenkommen, wo nichts zwischen den Menschen steht, keine Erwartung, kein Vorurteil dem Nächsten gegenüber, ist der Weg frei für heilende Entfaltung des Einzelnen und der Communio.

Vermutlichfehlt ihnen jetzt etwas! – Ja, ich spreche nicht so gern von Gottesbegegnung. Ich spreche lieber von der Begegnung der Menschen, die immer wieder neu zu wagen ist: „Geh hin und versöhne dich mit deinem Bruder – und dann komm …!“ (Mt 5,24) Die versöhnende Begegnung der Menschen ist die unverzichtbare Voraussetzung für das Gelingen des Kults. Glückt sie, so ist das heilend, tröstend, erfüllend.

Im Hinblick auf beide angesprochenen Themen ist die leere Mitte im Communio-Raum ein wirkkräftiges Bild. Wir lassen eine zentrale Stelle im Kultraum unverstellt, unbezeichnet, unbeschrieben, leer. Die Mitte – als Ort der Öffnung, als Ort des Anfangs, des Logos – ist das Urbild, die vera ikon, die kein Mensch zu malen, die kein Mensch zu bezeichnen vermag.

Rudolf Schwarz sprach, nicht ohne Pathos, von der Mystik der leeren Wand. Wir verstehen das Bild der Leere heute nicht mehr ikonologisch –  wir nehmen es urbildlich, erlebbar in die (mit)menschliche, existenzielle Mitte.

Mancher Kirchenraum erlaubt es wortwörtlich, die Mitte unbesetzt, frei zu lassen.

In anderen Fällen steht der Tisch des Brotes, außerhalb der liturgischen Feier unbedeckt, leer in der Mitte konzentrisch angeordneter Stuhlreihen.

Ich gestalte diesen Tisch immer sehr zurückhaltend, lasse gerne das Ornament der Natur, der Schöpfung, etwa in der Zeichnung eines 600 Jahre alten Olivenbaumes zu Wort kommen.

In der Kapelle der europäischen Bischofskonferenz in Brüsselhat der Tisch die Gestalt eines offenen Rahmens.

In der Kapelle der internationalen Hochschulgemeinde in Graz steht ein Glastisch, dem das vollständige lateinische Alphabet eingeschrieben ist.

 

Da heute nur noch selten neue Kirchen gebaut werden, geht es für Architekten und Künstler meistens um die Neu-bzw. Umgestaltung vorhandener Kirchräume. Da bleibt nicht aus, dass immer wieder mit Nachdruck die Verantwortung gegenüber der Historie eingemahnt wird. Dabei hat sich ein unreflektiertes Festhalten an alten Dingen und Formen bloß auf Grund ihres Alters eingebürgert. Gewiss – es tut weh, wenn kulturelles Erbe nicht gewürdigt und unbedacht oder sogar mutwillig zerstört wird. Aber ist nicht die Demolierung der Gegenwart und damit von Gegenwärtigkeit noch schwerwiegender?

Die heute geläufige Auffassung des Historischen hat mit der ursprünglichen Bedeutung des Wortes nur wenig zu tun: Das griechische hístōr (ἵστωρ) steht für wissend, kundig. Historisch handeln bedeutet demnach weise zu verfahren, einen Inhalt, eine Botschaft auf kundige Weise zu bezeugen. Und das kann nur bedeuten, immer wieder auf höchstmöglichem ästhetischem Niveau eine aktuelle Sprache und Ästhetik für die immergleiche Botschaft zu finden. Mit dieser Übersetzung komme ich bei Denkmalpflegern und Kirchenleuten oft nicht gut an. In vielen Fällen, auch hier spreche ich aus Erfahrung, sehen kirchliche Entscheidungsträger und Bauherren kein Problem darin, sich von Denkmalbehörden bevormunden zu lassen. Warum wohl? Weil die Kirche zu einer weltlichen Institution geworden ist und sich als solche den Paradigmen einer bildgläubigen Kultur unterworfen hat?

Die westliche Kultur hat, um Welt und Leben ungehindert manipulieren und vermeintlich beherrschen zu können, eine mächtige Strategie entwickelt. Sie ersetzt relevante Lebensbereiche durch selbst gemachte Modelle und Bilder. Ziel ist die totale Ökonomisierung des Lebens – wir alle bezahlen den Preis hiefür. Davor wurden wir gewarnt: „Du sollst dir kein Bildnis machen!“ Damit hat auch die Kirche ihre Probleme. Große Teile ihrer Performance bauen auf menschlich gemachten Bildern auf, sodass die Feier oft zur Inszenierung verkommt. If you celebrate it: Feiern im spirituellen Sinn gründet in achtsamer, Bildgrenzen transzendierender Präsenz, reicht so in den grundlosen Grund unserer Existenz. Bildverhaftete Inszenierungen hingegen errichten unwirkliche Zweitwelten mit Verfallsdatum.

Daher sind liturgische Formen – Handlungen, Räume, Gerät und Texte, traditionelle wie zeitgenössische – immer wieder zu prüfen:

Dienen sie der Feier oder geht es nur um Inszenierung?

Wo inszenieren wir – inmitten göttlicher Allgegenwart – Ferne?

Wo wird dem Bild der chronologischen Zeit Priorität gegeben, sodass wirkliche, ewige, messianische, Jetzt-Zeit verschleiert wird?

Manche Theologie verlegt die Zeit der Erfüllung ja in die (chrono-)zeitliche Zukunft. Und glorifiziert Vergangenheit; schafft es nicht, den Toten das Begraben der Toten zu überlassen.

Das übermäßige Hängen an alten Dingen ist eine Spielart von Idolatrie, der vermutlich gefährlichsten Krankheit überhaupt. Hier geht es schlicht um Wirklichkeitsverlust. Giorgio Agamben hat in seiner Rede „Kirche und Reich“ (La Chiesa e il Regno), die er vor einigen Jahren in Notre Dame in Paris gehalten hat, dieses brisante und für die Kirche existentielle Thema pointiert beleuchtet. Wer sich um das Überleben der Kirche sorgt, den wird das gleichnamige Büchlein gleichermaßen bereichern wie beunruhigen.

 

Zu diesem Thema ein konkretes Beispiel:

Das Projekt für eine Klosterkirche, bei dem es um die räumliche Klärung für die Gemeindeliturgie und die Tagzeitenliturgie der Mönche ging, wurde abgelehnt, weil die Denkmalbehörde ein historisierend gestaltetes Pseudo-Barockgestühl aus der Mitte des 20. Jahrhunderts für unantastbar erklärt hatte. Außerdem wollte man sich nicht vom liebgewonnenen Modell der Wegkirche trennen, obgleich der Mittelgang den elliptischen Kuppelraum auf geradezu brutale Weise durchschneidet. Aus spiritueller Sicht finde ich das Modell des Weges grundsätzlich problematisch. Es erzeugt und verfestigt das zynische Bild eines fernen Gottes, von dem wir getrennt sind. – Um wie viel zutreffender ist da der biblische Weinstock, der die Reben – die wir alle sind – in sich birgt.

 

Wenn sich die Problematik der Idolatrie als ein Zuviel an Bild umschreiben lässt, dann die andere Erfahrung, der ich mich nun zuwenden möchte, als ein Zuwenig an Bild-ung, an ästhetischer Bildung.

Obwohl im 20. Jahrhundert mehr Kirchen errichtet wurden als in der ganzen restlichen christlichen Baugeschichte, weiß ein Gutteil des Klerus darüber sehr, sehr wenig. Es ist z.B. verwunderlich, wie viele Theologen und Priester selbst den Namen Rudolf Schwarz noch nie gehört haben.

In der autonomen Kunst ist das Defizit noch ausgeprägter. Bei einem Theologen-Seminar, an dem ich kürzlich teilnahm, war nur zwei Teilnehmern der Komponist John Cage bekannt. Wie wir heute bereits erlebt haben, ist John Cage nicht irgendein Avantgardist. Der große Komponist und Musikerneuerer ist als Künstler und (spiritueller) Denker gleichermaßen faszinierend.

Im Jahre 1952 wurde sein „Stilles Stück“uraufgeführt. Es trägt den Titel: 4 Minuten 33 Sekunden. Die Partitur des dreisätzigen Werks fordert den bzw. die Musiker auf, insgesamt vier Minuten und 33 Sekunden schweigend zu verharren. Das Stück lässt das Publikum aufs eindringlichste erleben, dass sich alle Musik, auch alles Sprechen, der Stille verdankt.

Ich möchte sie noch auf ein zweites Stück von John Cage aufmerksam machen, das die ganze Zeit, während wir hier sitzen, in einer Kirche in Deutschland erklingt. Die Aufführung der Orgelkomposition mit der Tempoanweisung „as slow as possible“ in der ehemaligen Zisterzienserkirche in Halberstadt dauert bereits 12 Jahre und wird erst im Jahr 2640 enden. Konzertbeginn war im Jahr 2001, 639 Jahre nachdem die Halberstadter Klosterkirche die weltweit erste Großorgel erhalten hat, die natürlich schon lange nicht mehr existiert. Die Orgel für das Cage Stück wird während der Aufführung Pfeife für Pfeife aufgebaut. Jährlich hören über 10.000 Konzertbesucher einen Ton oder Akkord oder reisen zu einem „Tonwechsel“ an. Das die Dimensionen unseres chronologischen Zeitmodells sprengende Werk realisiert eine Meditation mit klangästhetischen Mitteln und versetzt den Hörer, wenn er in der gotischen Kirche vielleicht ein oder zwei Stunden einen einzigen Orgelton hört, in eine andere Zeit, die jener paulinischen Zeit, von der vorhin die Rede war, um vieles näher ist als die gleichermaßen geraffte wie flüchtige Zeit unseres Alltags.

Das waren nur zwei Beispiele grenzüberschreitender Kunst, um zu verdeutlichen, wie nahe künstlerisches und spirituelles Interesse beieinanderliegen.

 

Leider begegnet man heute nur sehr selten Priestern, Pfarrgremien, Bischöfen usw., die mit aktueller Kunst vertraut sind. So stößt man natürlich an Grenzen, wenn man einem Auftraggeber, dem die künstlerischen Denk- und Formenwelten der letzten 100 Jahre vollkommen fremd sind, einen Entwurf, der einer zeitgenössischen Sprache verpflichtet ist, erklären soll. Hinzu kommt, dass sich in vielen Fällen Pfarrgemeinden, Konvente etc. allein gelassen erleben. Der Kunstreferent des Bistums, so diese Stelle überhaupt mit einer einigermaßen qualifizierten Person besetzt ist, steht oft über den Termin einer Jurysitzung oder Beschlussfassung hinaus nicht zur Verfügung.

 

Beenden möchte ich meinen Vortrag mit Bildern von zwei exemplarischen Kirchen, die inzwischen bereits über ein Jahrzehnt ihre liturgische Lebendigkeit wahren und noch immer weiter wachsen:

St. Paulus, die Kirche der katholischen Gemeinde deutscher Sprache in Brüssel.

Hier konnte ich einen Communio-Raum mit kreisförmiger Anordnung realisieren. Der Kirche vorgelagert ist ein „liturgischer Garten“, in dem im Sommer auch Taufen stattfinden.

Maria Geburt in Aschaffenburg, Deutschland

Hier entfaltet sich eine lebendige Liturgie, die das Potential des Raumes immer wieder aufs Neue auslotet und erweitert.

 

Vortrag beim Internationalen Kongress für Liturgie im Monasterio di Bose, Italien, 2013

Publiziert in italienischer Sprache, mit zahlreichen Abbildungen, in Nobile Semplicità, liturgia, arte e architettura del Vaticano II, Edizione QiQajon, Comunità die Bose, 2014

 

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