Vom Pantheon zur Kathedrale des 21. Jahrhunderts

Zur Neugestaltung der Hedwigskathedrale in Berlin            

Leo Zogmayer                           

Die Hedwigskathedrale in Berlin muss saniert und soll dabei auch neugestaltet werden, was aus architektonischer, denkmalpflegerischer und liturgischer Sicht sehr heftig diskutiert wird. In einem Wettbewerb hat sich ein Entwurf durchgesetzt, der der Baugeometrie und Semantik des Kuppelbaus folgt und den Zentralraum konsequent zentralräumlich liest und auch entsprechend liturgisch nutzen will.

 

 

 

Das Pantheon in Rom kann als Fortschreibung antiker Philosophie und Theologie mit den Sprachmitteln der Baukunst gelesen werden. Der Kuppelbau, der bis heute nicht nur kunst- und religionsgeschichtlich interessierte Pilger, sondern auch noch immer Architekten und Bautechnologen fasziniert, scheint den Beweis erbringen zu wollen, dass globale und universale Weitung des Blicks nicht nur schriftlich, sondern auch „gebäudeförmig“ Ausdruck finden kann. Friedrich II. bezog sich in seinem Plan für die spätere Hedwigskirche inmitten seines Fridericianums bewusst auf die pan-theologische Ausrichtung des römischen Tempels. Wenn die zum Teil von der Peripherie des Reiches immigrierten Gottheiten im Pantheon quasi einen römischen Pass erhielten, so sollte das Berliner Gebäude, gemäß der politisch motivierten liberalen Religionspolitik Friedrichs, für alle Religionsgemeinschaften offen stehen. Doch der König war rasch zu überzeugen, dass für dieses Ansinnen die Zeit noch nicht reif war. Der Tempel für alle Glaubensrichtungen mutierte zur St. Hedwigs-Kirche für die Berliner Katholiken.

Beinahe 2000 Jahre nach dem Bau des römischen Pantheons, das Anfang des 7. Jahrhunderts zur christlichen Kirche wurde, und im Rückblick auf eine Kirchenbaugeschichte, in der das lateinische Kreuz anscheinend den Sieg über die zentralrunde Form errungen hat, erben wir nun einen eindrucksvollen Kuppelbau mitten in Berlin und befragen dieses Gebäude auf seine Kathedralentauglichkeit. Und siehe da, der Tempel entpuppt sich bei genauer Betrachtung als geradezu optimales Gehäuse für eine Kirche unserer Tage, der nur darauf wartet, als Kathedrale des 21. Jahrhunderts entdeckt zu werden.

Die Geschichte oder vielmehr das Schicksal kirchlicher Zentralbauten, sehen wir von Baptisterien, Mausoleen und anderen Sonderformen ab, zeichnet sich durch eine beinahe ­lücken­­lose Konstante aus: Früher oder später schrieb man ihnen eine Richtung, einen Weg, eine Längsachse ein. Das räumliche Modell für christliche Transzendenz ließ sich anscheinend, kurz gesagt, nicht anders als vektoriell denken und darstellen.

Was passiert aber wirklich, wenn wir der Baugeometrie und Semantik des Kuppelbaus folgen und den Zentralraum konsequent zentralräumlich lesen und liturgisch nutzen? – Wir lassen das dominierende Transzendenz-Modell des Weges hinter uns und erleben die liturgische Versammlung vollkommen neu – in einem Raum immanenter Transzendenz. Das Volk Gottes ist nach wie vor unterwegs, jedoch nicht in eine inszenierte Ferne, sondern gegenwärtig, im Hier und Jetzt. Augenfällig und erlebbar ist die Ars celebrandi um die Kunst der Begegnung bereichert, im mitmenschlichen und göttlichen Sinn.

Kathedrale, Sakramentskapelle, Unterkirche

In unserem Entwurf zur Neugestaltung der Hedwigskathedrale sieht das folgendermaßen aus: Die Gemeinde versammelt sich in konzentrischen Kreisen um das gemeinsame Zentrum des Altars, der in der tatsächlichen Mitte der Versammlung, im realen Zentrum des monumentalen Zylinder/Kuppel-Raumes steht. Dieser Ort – exakt unter der Scheitelöffnung – bietet sich wie selbstverständlich als Standort des Altars an. Ursprünglich auch für den Architekten Hans Schwippert, als er mit der Planung für die Neugestaltung der Kathedrale nach den Zerstörungen des zweiten Weltkriegs begann: „Wie immer in zentralen Räumen dieser Art, tendiert im Grunde ein Altar zur Raummitte.“ (Ausbau der St.-Hedwigs-Kathedrale zu Berlin 1956-63) Schwippert studierte, analysierte, recherchierte „die alte Frage nach der Tauglichkeit des Zentralraumes (…) für gottesdienstliche Aufgaben“, die sich in St. Hedwig, wie er betonte, „in der denkbar schärfsten Ausprägung“ stellte. Gab es doch hier keinerlei räumliche Gliederung durch „Raumkränze, Nebenschiffe, Umgänge, Emporen, Nischen, Konchen, Chöre, Kapellen“, wie sie uns aus gewohnten Kirchräumen vertraut ist.

Einerseits zeigte sich Schwippert ergriffen von der „großartigen Simplizität und Einfältigkeit“ des Mauerrunds, „das ohne Umstände den kreisförmigen Raum schlicht und streng eingrenzt“. Anderseits befürchtete er bei Zentralstellung des Altars, dass dann der ganze restliche Kirchraum „nur noch Umraum“ um eine überbetonte Mitte wäre. Die Gemeinde, die als wesentliche Liturgin den eigentlichen sakralen Raum und nicht bloß „Umraum“ bildet, kommt in diesen Überlegungen nicht vor.

Es ist bekannt, auf welche Weise der aus Remscheid stammende Architekt den „Einbau neuer zusätzlicher räumlicher Vielfalt“ bewerkstelligte. Eben durch die Anbindung der im Sockel der Kirche befindlichen, bislang ausschließlich als Begräbnisstätte genutzten Kryptenräume über eine große, in halber Höhe sich gabelnde Treppenanlage. Diese erforderte jene weiträumige Öffnung des Kirchenbodens in der Mitte der Kathedrale, die von der Zeit der Planung und Realisierung bis heute aus architektonischer, denkmalpflegerischer und liturgischer Sicht umstritten blieb.

In unserem Entwurf gliedert sich die Stuhlanordnung in konzentrischen Kreisen in sechs Sektoren, wobei deren fünf für die Gemeinde und der sechste für Ambo, Kathedra, Priestersitz, Konzelebranten, die Plätze des Domkapitels und die Messdiener vorgesehen sind. Die mobile Bestuhlung erlaubt jederzeit ohne großen Aufwand liturgisch erforderliche Umstellungen, zum Beispiel im Sektor vor der Orgel für Chor und Orchester.

Zwischen den Sitzblocksektoren öffnen sechs strahlenförmig angelegte Erschließungsgänge auf halbrunde Wandnischen zwischen den Säulenpaaren. In zwei dieser Konchen münden die Portale, die vom Vorraum aus den Kathedralraum erschließen. Von links nach rechts beherbergen vier weitere Konchen: die spätgotische Mondsichelmadonna südwestdeutscher Provenienz; ein bisher in der Schatzkammer der Unterkirche aufbewahrtes frühgotisches Vortragekreuz, das wir gerne wieder in liturgischer Verwendung sehen würden; eine Stele mit permanent ausgelegtem Evangeliar; und gegenüber der Muttergotteskonche die berührende gotische Heiligenfigur mit Mitra, vermutlich um 1340 in einer Sieneser Werkstatt entstanden und seit 1980 als Geschenk von Johannes Paul II. in Berlin. Im Rahmen einer Restaurierung wurde der Heilige zum Hl. Petrus, dem Patron des Bistums, umgedeutet. Die Rückverwandlung zum ursprünglichen Hl. Urban (der Städter) wäre in der Kathedrale der deutschen Metropole zu überlegen.

Die liturgischen Orte befinden sich auf einer Ebene mit der versammelten Gemeinde. Einzig die Kathedra steht auf einem einstufigen Podest. Der Priestersitz ist durch seine Farbgestaltung von den Gemeindestühlen unterschieden und so als Ort des Vorsitzes ausgewiesen.

„Wenn die Horizontale stimmt, stimmt auch die Vertikale“, reagierte ein Besucher der Wettbewerbsausstellung auf den Raum­entwurf. Er hatte erkannt, dass die konsequent horizontal gestaltete Versammlungsform eine wesentliche Voraussetzung für das Erleben göttlicher Gegenwart im Rahmen der Liturgie ist. „Geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder und dann komm und bring deine Gabe dar!“ (Mt 5, 24) Wird diese Voraussetzung übergangen, reduziert sich Liturgie auf eine ideologische Übung, und sei sie noch so feierlich.

Die oft angesprochene Problematik der Konfrontation der Gottesdienstteilnehmer mit dem direkten Gegenüber ist in der Kreisform nicht gegeben. Anders als im Gegenüber starrer Reihen blickt man hier ins Rund der versammelten Gemeinde, in der man sich geborgen erlebt. Bewusst werden eigens für die Berliner Kathedrale entworfene Stühle und keine Bänke vorgeschlagen. Sitzmöbel für den Gottesdienstraum sind Objekte, mit denen alle Gottesdienstteilnehmer in unmittelbaren Kontakt kommen. Sie sind daher bedeutsame, meist unterschätzte „liturgische Geräte“ und als Negativform und bildhafte Platzhalter für die Gläubigen zu lesen. Der Stuhl definiert zudem nicht unwesentlich unsere Sitzhaltung. Gerade im Kultraum steht er für die Entsprechung von äußerer und innerer Haltung.

Im Verband bilden die Kirchenstühle ein leichtes, transparentes Geflecht. Der Fußboden der Kathedrale bleibt als konstitutives, tragendes Element der Architektur sichtbar und spürbar. Die Bestuhlung hat gegenüber schweren Bankelementen auch den Vorteil, dass die Anordnungsfigur zu gegebenen liturgischen Anlässen ohne großen Aufwand mühelos verändert werden kann.

Der Altar in der Mitte der Kathedrale hat die Form einer leicht modifizierten Halbkugel, die komplementär auf die über dem Zentralraum aufgespannte Kuppel antwortet. Die auf einem Punkt ruhende Halbkugel aus hellem Kalkstein behauptet sich ikonisch als auch liturgisch in dem monumentalen Raum. Da sie kaum den Boden zu berühren scheint, wirkt sie gleichermaßen massig wie schwerelos.

Die Idealfigur der Kugel erhält in der Halbierung zeichenhafte Bedeutung: Was in der dualistischen Welt geteilt und gebrochen erscheint, soll im Vollzug der Feier ganz (heil) werden. In der massiven Kuppa der Altarhalbkugel variiert sich das jedem Besucher des Pantheons bekannte Zusammenspiel der oberen, sichtbaren Gewölbehalbkugel mit der ungebauten, unsichtbaren unteren Hälfte. Bekanntlich würde die zur vollständigen Kugel ergänzte Kuppel den Boden des Gebäudes berühren.

Der Ambo ist aus dem gleichen Stein wie der Altar gefertigt. Die einfache, schmucklose Quaderform entspricht der minimalistisch geometrischen Skulptur des Halbkugelaltars. Die Platzierung des Ambos wird der Forderung gerecht, dass keine Gottesdienstteilnehmer im Rücken des Zelebranten beziehungsweise Lektors sitzen sollen.

Die neu konzipierte Sakramentskapelle für Anbetung, Andacht, Meditation und kleine Gruppenliturgien in der angebauten Rotunde, die zur Zeit noch die Sakristei beherbergt, ist als Ort der Stille gestaltet. Räumliche Konzentration, meditative Lichtführung durch hohe schmale Fenster aus blauem Echtantikglas und der mit ziselierten Goldplatten umkleidete Tabernakelkubus aus der Werkstatt der Goldschmiede Fritz Schwerdt und Hubertus Förster von 1963 machen die Kapelle zum hochrangigen kontemplativen Zentrum.

In der Mitte der Unterkirche, die über eine Treppe vom Vorraum her erschlossen wird, genau unter dem Altar, soll ein großer Taufbrunnen platziert werden, der sowohl die Taufe durch Begießen oder Eintauchen des Täuflings, als auch das Untertauchen des ganzen Körpers bei der Taufe von Jugendlichen und Erwachsenen ermöglicht.

Wie der Altar profitiert auch das Taufbecken von der Verortung an der Mittelachse des Zentralbaus. Die gut ablesbare und förmlich spürbare zentrale Vertikal-Achse „Taufbecken – Altar – Scheitelfenster der Kuppel“ macht die neu konzipierte Hedwigskathedrale zu einem Kirchbau raumliturgischer Unverwechselbarkeit.

Mit seiner intimen Atmosphäre eignet sich der Mittelraum der Unterkirche auch als Gruppenandachts- und Feierraum für Werktagsgottesdienste, Gruppengottesdienste, Meditationen usw. Altar und Ambo – allenfalls in mobiler Ausführung – sollen aus Olivenholz gefertigt werden und bilden zusammen mit dem Taufbrunnen und dem Schrein für die heiligen Öle ein liturgisch sinnfälliges Ensemble.

Ideenwettbewerb Gebäudeensemble

Für die Seitenräume der Unterkirche ist geplant, ein inhaltlich zusammenhängendes Raumensemble mit historischen Kunstwerken und zeitgenössischen Kunst-Interventionen zu schaffen, das zum Verweilen und kontemplativen Durchwandern einlädt. Eine Schatzkammer, ein Museum oder eine Galerie sakraler Kunst soll hier nicht entstehen – und dennoch könnte, auf zurückhaltende Weise, etwas von den Qualitäten und Energien solcher Konzepte genutzt werden. Allerdings immer auf das spirituelle Programm bezogen.

Die Grabkammern verbleiben an ihrem Ort, werden jedoch neu gestaltet. Die Bernhard-Lichtenberg-Kapelle mit dem Grabmal des Seligen wird durch neue räumliche Verbindungen erweitert und aufgewertet. Gegenüber ist eine dreiteilige Kapelle zu Ehren der Hl. Hedwig geplant.

Neben der zentralen Aufgabe des von Kardinal Rainer Maria Woelki ausgelobten Wettbewerbs, der Neugestaltung des Innenraums der Hedwigs-Kathedrale, wurden im Rahmen eines Ideenwettbewerbs auch Entwürfe für das ganze Gebäudeensemble angefragt, für das historische und für das neue Lichtenberghaus und den Kirchplatz, der sich zur Zeit noch als wenig einladende Restfläche darbietet.

Das alte Lichtenberghaus mit Verwaltungs- und Serviceeinrichtungen der Domgemeinde, der Dompropstei und des Bistumssitzes, Dienstwohnungen sowie einem großen Veranstaltungssaal soll seine historische Außenhaut aus dem 19. Jahrhundert bewahren, jedoch im Inneren räumlich neu strukturiert werden. Das benachbarte neue Lichtenberghaus ist als Neubau vorgesehen. Der konisch angelegte Bau folgt der Geste der offenen Hand und schafft Kontur und Orientierung für einen vielfältig nutzbaren Kirchplatz.

Zur Kathedrale beziehungsweise dem Kirchplatz öffnet sich der Bau in transparenter Gestaltung, in Richtung des benachbarten Hotel de Rome und zur Französischen Straße sind geschlossene Fassadenfronten geplant. Im Erdgeschoss des Neuen Lichtenberg-Hauses lädt ein Kaffeehaus mit Bibliothek zum Ruhefinden, Lesen und Kommunizieren ein. Mit großzügiger Raumhöhe, versetzten Ebenen, einladend bequemer Einrichtung soll hier eine Oase mit besonderer Atmosphäre entstehen, die sich deutlich vom Mainstream kommerzorientierter Gastronomieangebote im großstädtischen Umfeld abhebt. Wir sehen dieses außergewöhnliche Kaffeehaus darüber hinaus auch als Agape-Ort in einem quasi liturgischen Kontext zu den explizit sakralen Räumen. Darüber hinaus bietet der Neubau mit einem erweiterten Untergeschoss Platz für eine neue Sakristei, ein Büro der Caritas, Seminar-, Veranstaltungs- und Verwaltungsräume eines Wissenschaftskollegs, Probe- und Unterrichtsräume des Kathedralchors, einen Raum für Meditation und kontemplative Übungen sowie einen Ausstellungsraum für Kirchenschatz und lokale Kirchengeschichte.

Die Verbindung der unterschiedlichen Zonen der Gebäudegruppe mittels eines „spirituellen Pfades“ soll sich, vergleichbar mit der Gestaltung von Klosteranlagen, inhaltlich und ästhetisch durch den gesamten Dombezirk ziehen, natürlich mit entsprechenden Differenzierungen. Unser Wettbewerbsprojekt versteht sich als inhaltliches und ästhetisches Gesamtkonzept, das sich über Gebäude und Freiräume hinaus auf liturgische Orte und Objekte einschließlich Gefäße, Gewänder und Bücher bis zur gestalterischen Leitidee für die medialen Auftritte der Kathedralgemeinde beziehungsweise des Bistums erstreckt.

Worin liegt nun die besondere Herausforderung und Chance von St. Hedwig als Kathedrale des 21. Jahrhunderts? War die Geschichte der Kathedralen seit dem frühen Mittelalter immer wieder durch deren Missbrauch als politisch umworbene und militärisch umkämpfte Nationaldenkmäler überschattet, so sollte die Kathedrale des 21. Jahrhunderts für Begegnung und Versöhnung stehen. Der Standort der Hedwigskathedrale im Zentrum der deutschen Metropole ist hierfür eine geradezu ideale Vorgabe.

Als inhaltliche Chance sehen wir, dass hier im Zusammenspiel von Liturgie, Caritas, Gemeindearbeit, ökumenischer Öffnung, Wissenschaft, Bildung, Kunst, Stadt- und Jugendkulturarbeit ein vorbildlicher Ort für die Herausforderungen eines neuen Zeitalters des Dialogs entstehen kann. Die globale Situation erfordert heute und in allernächster Zukunft die Transformation der Menschheit in eine planetarische Gemeinschaft. Diese darf nicht bloß Thema akademischer Seminare bleiben, sie ist in gesellschaftliche, kulturelle, menschliche, spirituelle Wirklichkeit umzusetzen.

Wie alle kulturellen Bewegungen werden unter dem neuen Paradigma des globalen Dialogs auch die Religionsgemeinschaften alles vordergründig kompetitive Verhalten hinter sich lassen müssen. Vielmehr sind wir gefordert, auf kreative Weise zu kooperieren. Es gilt zu entdecken, was spirituell wirklich stimmig und authentisch ist, was uns befähigt, Lösungen für die existenziellen Herausforderungen der Menschheit zu finden. Ob und wie weit die großen verfassten Religionen im Rahmen eines zu erwartenden eschatologischen Aufbruchs, der weit über jene in den letzten Jahren immer wieder beschworene (diffuse) Renaissance des Religiösen hinausgehen wird, noch wesentlich beteiligt sein und Gehör finden werden, hängt nicht zuletzt von deren Dialogfähigkeit ab, die zuallererst in den eigenen Kreisen zu entwickeln und zu leben sein wird.

Ein für die deutsche Metropole besonders relevantes Dialog-Thema bilden die Künste. Berlin zieht seit Jahrzehnten Künstler, Künstlerkollektive und Initiativen aus aller Welt an und verfügt heute über eine der kreativsten, vielfältigsten und lebendigsten Szenen im weltweiten Vergleich. In dieser Stadt könnte es gelingen, das noch immer auf weiten Strecken brach liegende Potenzial künstlerisch-religiöser Synergien zu erkunden und im Rahmen eines auf Kontinuität angelegten Projekts zu entfalten. St. Hedwig wäre auch diesbezüglich gut als Keimzelle eines Neubeginns vorstellbar.

Am selben Straßenzug wie das Holocaust-Denkmal von Peter Eisenman gelegen, nicht weit von Daniel Libeskinds Jüdischem Museum, einen Steinwurf von Museumsinsel, Humboldt-Universität und dem zukünftigen Humboldt-Forum im Berliner Schloss entfernt, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Staatsoper und der neugegründeten Barenboim-Said-Akademie hat sich das katholische Kathedralensemble einer hochrangigen stadtkulturellen Konkurrenz zu stellen. Gegenüber den Monumenten und Institutionen der Forschung, Bildung und ästhetischen Erbauung verfügt St. Hedwig mit der Kathedrale als liturgischem Feier- und Handlungsort im Zentrum der Anlage über einen realen geistigen, spirituellen Mehrwert, der im Zuge der Neugestaltung auf überzeugende Weise zu vermitteln sein wird.

Leo Zogmayer

Leo Zogmayer (geb. 1949), Studium an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Bevorzugte bildnerische Medien: Zeichnung, Druckgrafik, Fotografie, Malerei, Skulptur. Seit Ende der achtziger Jahre raumgreifende Kunstprojekte in unterschiedlichen architektonischen und städtebaulichen Kontexten (Wien, Tübingen, Brüssel, New York) als auch an der Schnittstelle zum Design. Gestaltung liturgischer Räume (Brüssel, Bonn, Frankfurt, Aschaffenburg, Wien, Graz, Innsbruck).

Inhaltliche Themenfelder in Zogmayers Kunst sind Rehabilitierung und Neuakzentuierung des Schönen als ästhetischem Kernbegriff, Thematisierung von Zeit, interkulturelle Diskurse, Kunst und Spiritualität, reduktionistische und ikonoklastische Ästhetik. Zahlreiche Ausstellungen in Museen, Galerien und Kunsthallen in Wien, Graz, Linz, Salzburg, Paris, Brüssel, Berlin, München, Frankfurt, Essen, Zürich, Basel, Genf, London, Warschau, Bratislava, Seoul, Neu Delhi, Los Angeles. Ateliers in Wien und Krems: (www.leozogmayer.com; www.ifyoucelebrate.it).

 

Erschienen in Herder Korrespondenz 5/2015

 

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